31.01.2019

Das Spiel mit dem Ruin

Besteht eine auch noch so geringe Wahrscheinlichkeit des Ruins für einen Investor oder ein Unternehmen, so verändern sich die erwarteten Renditen stark zu seinen Ungunsten. Diese wichtige Tatsache wird von Finanzakademikern und grossspurigen Managern ständig übersehen – während Grossmütter und Unternehmensgründer alter Schule die Ruin-Problematik schon immer verstanden haben.

Peter Frech

vonPeter Frech

Fondsmanager

Stellen Sie sich vor, Sie sind Inhaber eines Industriebetriebs in einer kapitalintensiven und hart umkämpften Branche wie der Automobilzulieferung. Die durchschnittliche Kapitalrendite Ihres Unternehmens über den Zyklus beträgt deshalb nur mässige 6%. Nun schlägt Ihr Sohn, frisch aus dem Praktikum bei einer renommierten Consulting-Firma zurückgekommen, eine einfache Strategie zur Optimierung der Eigenkapitalrendite vor: Durch die Aufnahme eines Kredits und die Ausschüttung einer Sonderdividende wird die Bilanz zwei-zu-eins gehebelt und voilà, die Eigenkapitalrendite beträgt neu ansehnliche 12%. Mit etwas mehr Leverage, meint der Junior, könnte man sogar wirklich fette 15% oder 18% erreichen. Doch irgendetwas in Ihrem Bauch sagt ihnen, dass es so einfach nicht sein kann – und dass Ihr Grossvater, der Firmengründer, damit nicht einverstanden gewesen wäre.

Tatsächlich geht es hier um ein altes Problem der Kapitalanlage: Sei es direkt in einem Unternehmen oder über Wertpapiere. Natürlich hatte der Grossvater mit seiner Vorsicht recht und der rendite-optimierende Sohn hätte mit seiner Leverage-Strategie das Unternehmen längst an die Wand gefahren.

Der Schlüssel dazu liegt in der Ausgangslage: Die Eigenkapitalrendite beträgt im Mittel 6%. Es gibt aber durchaus Jahre, in denen sie auch negativ ausfallen kann, weil Verluste geschrieben werden. Ist sie mal zwei oder drei Jahre in Serie negativ, wird es sehr wahrscheinlich, dass die Bank den Kredit einfordert und die Firma Konkurs geht. Dann sind die Inhaber ruiniert und es gibt keine Chance mehr, das verlorene Geld jemals zurückzugewinnen. Die zwei-zu-eins gehebelte Rendite wird deshalb über die Zeit tiefer ausfallen als die naiv angenommenen 12%. Besteht durch die Schwankungsbreite der Renditen und den Kredithebel eine auch noch so geringe Chance des Konkurses, so ist ein Ruin sogar garantiert, je länger dass das Unternehmen diese Strategie fährt.

Herkömmliche finanzmathematische Berechnungen der erwarteten Kapitalrendite werden durch die Ruin-Problematik vollkommen nutzlos! Die Physiker Ole Peters und Murray Gell-Mann haben dies 2015 in einem wichtigen Paper mathematisch gezeigt. Nassim Taleb, Autor des «Schwarzen Schwans», führt das Thema in seinem neusten Buch «Skin in the Game» weiter aus.

Drei Millionen oder eine Kugel im Kopf

Ein krasses Beispiel von Taleb verdeutlicht die Ruin-Problematik: Nehmen wir an, ein gelangweilter Oligarch bietet Ihnen an, russisches Roulette mit ihm zu spielen. Wenn Sie abdrücken und überleben, zahlt er Ihnen drei Millionen (Dollar, nicht Rubel). An Tote zahlt er jedoch nichts. Wie hoch ist der Erwartungswert dieses Spiels? Der naive Statistiker würde sagen: 2.5 Millionen Dollar. In fünf von sechs Fällen gewinnt der Spieler 3 Millionen, im unglücklichen sechsten Fall ist es eine Null und es freut sich der Totengräber.

Die Konklusion aus dem positiven Erwartungswert: Je mehr Sie abdrücken, desto mehr können sie gewinnen! Gemäss ökonomischer Entscheidungstheorie müssten sich die Leute auf so ein Spiel stürzen. Natürlich werden das die wenigsten tun, weil 2.5 Millionen Gewinn im Schnitt nicht für das Risiko des eigenen Tods entschädigen.

Doch der angenommene Erwartungswert ist auch rein formal mathematisch falsch. Besteht das Risiko des Ruins – im drastischsten Beispiel mit einer Kugel im Kopf –, so entspricht der erwartete Gewinn von 100 Spielern, die einmal abdrücken, nicht dem erwarteten Gewinn eines Spielers, der versucht 100 Mal in Serie abzudrücken. Während die 100 Spieler im Schnitt tatsächlich 2.5 Millionen holen, wird der einzelne Spieler bei 100 Versuchen mit allergrösster Wahrscheinlichkeit draufgehen. Sein effektiver Erwartungswert tendiert gegen Null.

Das Gruppenschicksal entspricht nicht dem Einzelschicksal

Mit einem Fachbegriff aus der Physik spricht man davon, dass die Ergodizität nicht gegeben ist: Das mittlere Ergebnis der parallel spielenden Gruppe entspricht nicht dem mittleren Ergebnis eines Einzelnen über die Zeit.

In der Praxis besteht bei allen Glücksspielen und Investments mit Ruinrisiko dieses Problem, da der Entscheidungsträger ja seriell über die Zeit investiert, nicht parallel in verschiedenen Universen. Je höher das Ruinrisiko und je höher die Varianz der jährlichen Erträge, desto wahrscheinlicher resultiert über die Zeit der Totalverlust.

Aus diesem Grund hat im Firmenbeispiel am Anfang der Grossvater recht: In einem zyklischen und volatilen Geschäft wird durch die Aufnahme von Fremdkapital womöglich kurzfristig der Ertrag erhöht. Auf lange Sicht resultiert daraus aber mit fast absoluter Sicherheit der Ruin. Diese intuitiv verständliche Tatsache ist wohl einer der Gründe dafür, dass die meisten familiendominierten Unternehmen im Schnitt weniger Schulden haben als anderen Publikumsfirmen. Beziehungsweise es besteht ein Survior Bias: Die Familienfirmen mit zu ehrgeizigen Finanzoptimierern am Ruder sind alle Pleite gegangen.

Bestehen Interessenskonflikte, wird das Problem noch verschärft. Reine Manager ohne stattliche Beteiligung am Aktienkapital, also ohne «Skin in the Game» im Sinn Talebs, neigen logischerweise eher dazu, russisches Roulette zu spielen. Geht es gut, kriegt der Manager einen fetten Bonus. Geht es schief, kriegen die Aktionäre die Kugel.

Buffetts weise Vorsicht

Die Erkenntnisse der Ruin-Problematik lassen sich direkt auf das Investieren mit Aktien übertragen. Intuitiv wurden sie schon immer von vielen Investoren beachtet. Die amerikanische Anlegerlegende Warren Buffett zum Beispiel hat sich bewusst gegen Leverage bei seinen Aktieninvestments entschieden, gerade weil er ein so guter Investor ist. Das ist unverständlich für viele Finanzprofessoren: Buffett hat mit seiner Berkshire Hathaway über mehr als 50 Jahre im geometrischen Schnitt 20% gemacht, was extrem aussergewöhnlich ist. Würde er seine Renditen mit Krediten zwei-zu-eins hebeln, könnte er doch wahrhaft fantastische 40% machen?

Falsch: Zweimal in den letzten 50 Jahren hatte sich der Wert der Berkshire-Aktie halbiert. Mit einem Kredithebel wäre Buffett ruiniert gewesen und er hätte wieder bei Null anfangen müssen. Deshalb macht es aus seiner Überzeugung gerade als Investor mit überdurchschnittlichen Renditeerwartungen umso weniger Sinn, sich einem Ruinrisiko auszusetzen.

Doch lässt sich das Ruin-Risiko nicht diversifizieren? Man stellt sich ein Portfolio von Hazardeuren oder eben Aktien zusammen, die durch Kredithebel russisches Roulette für einen spielen: 100 hochzyklische Automobilzulieferer mit viel Schulden unter der Führung von ehrgeizigen Jungmanagern zum Beispiel. Dies könnte theoretisch funktionieren, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind:

1. Nach jedem Spieldurchgang wird rebalanciert, das heisst, das Geld auf 100 Titel neu gleichverteilt. Ohne die Umschichtung hätte man nach einem Jahr nur noch 83 überlebende Titel, welche Ertrag generieren können. Nach zwei Jahren noch 69 und so weiter, bis irgendwann auch die letzte, dannzumal sehr wertvolle Aktie auf einen Schlag Konkurs geht. Dies deckt sich mit der Realität, dass die Mehrheit der Aktien auf lange Sicht unterdurchschnittlich abschneidet (siehe SpectraNews #20 vom Juni 2017). Naives Buy&Hold ohne Umschichtungen ist keine gute Strategie.

2. Die Ergebnisse der Firmen sind unabhängig voneinander. Was in der Realität nie gegeben ist. In der Rezession befinden sich quasi zusätzliche Kugeln im Revolver. In einem zyklischen Abschwung gehen viele Firmen miteinander in die Knie. Die Diversifikation auf 100 hochverschuldete Automobilzulieferer nützt in einer schweren Auto-Absatzkrise wenig. Alle zu stark gehebelten Firmen werden Pleite gehen. Nur Reserven in der Bilanz ermöglichen das Überleben.

Konklusionen für Aktieninvestoren

Aus diesen Überlegungen haben wir für unser Portfolio-Management für den Quantex Global Value Fund vor längerer Zeit schon folgende Schlüsse gezogen:

  • Wir versuchen generell Aktien mit Ruinrisiko zu vermeiden, also die Titel aus der sogenannten Todeszone mit hohem zyklischen und hohem operativem Leverage (siehe SpectraNews #36 vom Dezember 2018).
  • Wir führen ein gleichgewichtetes Portfolio, bei dem fortlaufend rebalanciert wird. Dies verhindert, dass zu grosse Positionen entstehen, die dann auf einen Schlag massive Verluste generieren könnten.
  • Firmen mit potenziell tödlichen Problemen werden von uns nicht gekauft, ganz egal, wie attraktiv ihre Bewertung erscheinen mag. Wir wollen dadurch verhindern, dass wir potenzielle Ruin-Kandidaten bis hinunter auf null ständig nachkaufen.

Wir vermeiden also zu grosse Einzelwetten und generell Firmen mit zu starkem Hebel. Ausserdem wird im Fonds auf den Einsatz von Hebelinstrumenten verzichtet. Und wir raten auch dringendst all unseren Investoren, den Fonds nicht mit einem Kredithebel zu kaufen.

Dies mag auf den ersten Blick übervorsichtig erscheinen: Langweiliges Investieren im Stil ängstlicher Grossmütter sozusagen. Doch der Erfolg der letzten zehn Jahre gibt uns bisher recht. Bei Aktieninvestments gilt es in erster Linie, schlimme Verluste zu vermeiden und im Spiel zu bleiben. Der langfristige Ertrag der Anlageklasse ist zu gut, um ein vorzeitiges Ausscheiden zu riskieren.

Wenn es ums Überleben geht, macht es generell viel Sinn, auf die Tipps alter Grossmütter zu hören. Und bei der Firmenselektion ist es schlau, Aktien zu bevorzugen, die mit konservativer Bilanz nach Grossvater-Art geführt werden.


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