16.06.2020

Das Zeitalter der Extreme

Als Reaktion auf den Corona-Crash pumpen die Staaten derzeit Geld wie sonst nur zu Kriegszeiten. Alle Beschränkungen der Fiskal- und Geldpolitik aus den letzten 40 Jahren wurden in ein paar Wochen vom Tisch gefegt. Damit befinden wir uns wieder im geldpolitischen Regime der Kriegswirtschaft. Die extremen Massnahmen werden wohl oder übel zu extremen Folgen an den Finanzmärkten führen.

Peter Frech

vonPeter Frech

Fondsmanager

Der alte Mann sass vor dem Telefon und wartete. Doch es klingelte nicht. Dabei hatte er lange auf diese Gelegenheit gewartet. Über die Jahre hatte er viel Geld zur Seite gelegt, um in der nächsten Krise ein Schnäppchen zu machen. Auf weit über 100 Milliarden Dollar war der Cashberg von Warren Buffett angewachsen. In der letzten Finanzkrise baten ihn illustre Namen wie General Electric, Goldman Sachs und Bank of America um Geld. Diesmal kam kein Anruf. Niemand brauchte Buffetts Notgroschen.

Bevor es im Corona-Crash zu einem richtigen «Credit Crunch» kam, flutete die US-Notenbank Fed die Märkte mit Geld, viel Geld: In wenigen Wochen wurde mehr als doppelt so viel neues Geld als Nothilfe für den Markt angekündigt, als während der ganzen Finanzkrise von 2008 bis 2009. Neben Staatsanleihen und Hypotheken kauft die US-Notenbank nun auch Gemeinde- und Unternehmenspapiere bis hinunter zu «Schrottanleihen». Hinzu kommt die Finanzierung der Kreditvergabe an notleidende Kleinfirmen über das Schatzamt.

Die am 23. März angekündigte Geldschwemme des Fed zeigte sofortige Wirkung:

Die Zinsaufschläge für schlechte Schuldner sanken seither stetig von über 10.9% auf derzeit noch 5.2%. Ob stillgelegte Ölbohrer, am Boden liegende Airlines oder absaufende Kreuzfahrtbetreiber, jeder bekommt wieder Kredit. 2020 wird sich voraussichtlich zu einem neuen Rekordjahr in der Emission von Unternehmensanleihen entwickeln. Auch teilweise obszön überschuldete Private-Equity-Vehikel müssen nicht darben, sondern kriegen ihre Kredite gerollt. Auf zur nächsten Übernahmerunde auf Pump!

Nur Aktien kauft das Fed noch nicht

Das Fed und die anderen Notenbanken geben allen Kredit und kaufen alles. Nur Aktien erwerben bis jetzt einzig die Bank of Japan und die SNB. Aber sollte der Aktienmarkt noch einmal schwächeln, dürften sich auch das Fed und die EZB unter die Aktienkäufer mischen.

Vorausschauende und vorsichtige Anleger, die sich im wilden Kreditboom der letzten Jahre zurückhielten, sind frustriert: Neben Warren Buffett wurde es auch Howard Marks und seiner Oaktree verunmöglicht, in dieser Krise im grossen Stil einzusteigen.

«Das Fed hat die Downside bei Unternehmensanleihen eliminiert», sagte ein sichtlich entnervter Scott Minerd, der Anleihen-Guru von Guggenheim Partners, kürzlich am TV. «Das Fed kann den Firmen Zeit kaufen, aber es kann nicht ihre Geschäftsmodelle zum Laufen bringen», zeterte die profilierte Fed-Kritikerin Danielle DiMartino-Booth.

Die Politiker dagegen lieben das neue Geldregime. Während etwa das sparsame Deutschland während Jahren jede Milliarde zweimal umdrehte, wird jetzt, flott und ohne viel Federlesens, über Nacht das nächste Stimulus-Programm von 110 auf über 140 Milliarden Euro aufgestockt. Gewohnheitsmässig etwas weniger sparsame europäische Länder wie Frankreich oder Spanien müssen nicht zwei Mal gebeten werden, mit der grossen Spendierkelle anzurichten. Nur das notleidende Italien hat sich bis jetzt erstaunlich zurückgehalten.

Wenn es um grosse Stimulus-Programme geht, ist natürlich auch Donald Trump immer dabei, alles noch grösser und besser zu machen. Ausserdem stehen die Wahlen an, so dass die Demokraten derzeit versuchen, den notorischen «Big Spender» im Weissen Haus mit noch extremeren Geldgeschenken zu überholen. Eine monatliche Gabe von 6000 Dollar für jede amerikanische Familie wurde kürzlich im demokratisch kontrollierten Repräsentantenhaus beschlossen, ist aber noch nicht Gesetz geworden. Ein bisschen Widerstand dagegen regt sich vorerst doch noch.

Die Rückkehr zur Kriegswirtschaft

Was derzeit abläuft, ist eine synchrone Rückkehr aller Industriestaaten zum alten Geldregime der Kriegswirtschaft: Der Staat schreibt wegen eines Notstands ein riesiges Haushaltsdefizit und die Notenbanken finanzieren dies bereitwillig mit der virtuellen Druckerpresse.

Die Haushaltsdefizite in Relation zum Bruttoinlandprodukt BIP werden 2020 in den meisten Ländern im zweistelligen Prozentbereich ausfallen. Für die USA reichen die Schätzungen bis hin zu einem Defizit von 25% des BIP. Solche extremen Werte wurden bisher allein im Zweiten Weltkrieg erreicht.

Bereits wachsen die Geldmengen M1 und M2 in den USA so stark wie nie mehr seit den hochinflationären 1970er Jahren. Damals waren in Amerika wie auch in Europa zweistellige Teuerungsraten an der Tagesordnung. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass diese extreme Geld- und Fiskalpolitik auch dieses Mal mit mehr Inflation enden wird.

Genau zur Verhinderung der Inflation und ihrer zerstörerischen Nebenwirkungen waren in den 1980er und 1990er die zahlreichen institutionellen und gesetzlichen Schranken für die Geld- und Fiskalpolitik aufgestellt worden. Die Kulmination dieses Trends waren die Maastrichter Verträge von 1992, welche den Zusammenschluss der EU zu einer Währungsunion besiegelten.

Totes Papier aus Maastricht

Als humoristische Anekdote sei hier aus dem Wikipedia-Eintrag zum Stabilitätspakt von 1992 zitiert:

«Der Pakt soll auch zur politischen Unabhängigkeit der EZB beitragen, indem möglicher politischer und wirtschaftlicher Druck von der EZB genommen wird. Insbesondere soll ausgeschlossen werden, dass hohe Haushaltsdefizite bzw. Staatsschulden einzelner Mitgliedsstaaten die EZB unter Druck setzen, Staatsanleihen aufzukaufen und eine Niedrigzinspolitik zu betreiben.»

Dieser Pakt ist definitiv erledigt, tot, begraben. Um das festzustellen, braucht es kein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus Karlsruhe, das der EZB immer noch posthum die Möglichkeit gibt, ihren Totschlag mit Finanzkauderwelsch zu rechtfertigen.

Das von institutionellen Schranken geprägte Geldregime der letzten Jahrzehnte ist tot. Schon in der Finanzkrise von 2008 wurden seine Grenzen überstrapaziert. Jetzt sind alle Schranken gefallen.

Politiker und ihre Wähler sind auf den Geschmack gekommen, dass sich praktisch beliebige Summen für alle möglichen Wunschprogramme mit der Notenpresse finanzieren lassen. Wenn der Staat wie aktuell in Deutschland oder der Schweiz über Kurzarbeitsprogramme rund einen Viertel aller Löhne zahlt, was spricht denn gegen ein universelles Grundeinkommen? Oder zumindest ein paar Hunderter mehr im Monat für alle?

Geld ist ja offensichtlich genug da. Auch ein paar Hundert oder gar Tausend Milliarden für einen «Green New Deal» sind kein Problem mehr. Die Geschichte von der klammen Staatskasse und dem Bondmarkt, der sofort aufschreit, wenn der Staat zu viel ausgibt, wurden vor unser aller Augen als Märchen entlarvt. In dieser Hinsicht haben die Proponenten der Modern Monetary Theory (MMT) schon immer recht gehabt.

Die spannende Frage ist: Wieso wurde das nicht schon früher jeweils so gemacht? Die Konjunktur stottert, die Unternehmen haben Mühe, die Löhne oder ihre Kredite zu bezahlen, eine Wirtschaftskrise droht – und das Rezept ist so bestechend einfach: Ein paar Tausend Milliarden drucken, an die Firmen, die Arbeitnehmer und auf ein paar Lobbygruppen nach Gusto verteilen, fertig?

Die Antwort lautet natürlich, weil diese extremen Massnahmen extreme Risiken und Nebenwirkungen in sich bergen. Wenn mehr Staatsausgaben und mehr Geld drucken die Lösung für alle Probleme sind, wären heute Länder wie Argentinien, Venezuela oder Zimbabwe die reichsten der Welt.

Die Begründer der MMT selbst sagen, dass für einen Staat, der seine eigene Währung druckt, einzig die vorhandenen Ressourcen und Arbeitskräfte die realen Einschränkungen für seine Ausgaben sind. Steuereinnahmen oder der Bondmarkt sind praktisch irrelevant. Sie sagen aber auch klar, dass damit die Gefahr der Inflation besteht, wenn zu viel neu geschöpftes Geld ausgegeben wird. Natürlich will kein Politiker diesen zweiten Teil hören, die neu konvertierten MMT-Anhänger am wenigsten.

Konklusion für Investoren

Die Verhinderung von Deflation und Kreditklemmen ist heute das oberste Ziel der Notenbanken geworden. Die Verhinderung von Inflation steht nur noch auf verstaubtem Papier in ihren Statuten. Es fehlt der politische Wille dazu.

Damit haben sich die heutigen Risiken für die Anleger asymmetrisch auf Seiten der Inflation verschoben. Asymmetrisch in dem Sinn, dass es zwar denkbar ist, eine milde Deflation mit wirtschaftlicher Stagnation zu bekommen, wie es Japan seit den 1990er Jahren erlebt hat. In einem solchen Szenario wären Cash und langlaufende Staatsanleihen die besten Anlageklassen.

Auf der anderen Seite drohen aber mit dieser neuen (alten) Geldpolitik Inflationsraten im zweistelligen Prozentbereich wie in den 1970er Jahren bis hin zur Hyperinflation von Tausenden oder gar Millionen Prozent im Jahr. In einem solchen Szenario werden Cash und langlaufende Anleihen praktisch wertlos. Gold, Rohstoffe und Sammlerobjekte waren in der Vergangenheit die besten Anlagen in der Hochinflation. Immobilien und Aktien schlagen sich als Sachwerte zwar auch passabel, haben aber wegen steigender Risikoprämien oft Mühe, mit der Teuerung Schritt zu halten.

Wie genau sich die aktuellen Massnahmen auswirken werden und welche Anlagen davon am meisten profitieren, lässt sich heute leider noch nicht abschätzen. Klar ist jedoch, dass durch die extremen Interventionen die Bandbreite der möglichen Zukunftsszenarien in Sachen Inflation viel breiter geworden ist. Anleger tun deshalb gut daran, nicht einfach damit zu rechnen, dass die nächsten zehn Jahre nochmal ungefähr in ähnlich schmalen Bahnen verlaufen werden wie die letzten zehn. Entsprechend erscheint uns eine breitere Diversifikation der Portfolios unter Einbezug von Gold und Rohstoffen angebracht.

Fazit zum neuen Zeitalter der Extreme

Der verstorbene britische Historiker Eric Hobsbawm beschrieb in seinem Werk «Das Zeitalter der Extreme» eloquent die Periode von 1914 bis 1991 als das kurze zwanzigste Jahrhundert der beiden Weltkriege und der Nachkriegszeit bis zum Fall des Ostblocks.

Dieses Zeitalter war nicht nur extrem, was Kriege und autoritäre Staatsformen anging. Sondern auch in Sachen Geldpolitik: Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 wurde die Golddeckung der Währungen ausgesetzt, um die Kriegswirtschaft mit der Notenpresse finanzieren zu können. Später wurden Wiederaufbau- und Sozialprogramme damit finanziert. Obwohl es zwischenzeitlich immer wieder Versuche gab, zu einem strikteren Regime der Geldpolitik zurückzukehren, wurde erst in den 1980er und 1990er Jahren ernsthaft versucht, den Gebrauch der Notenpresse institutionell einzuschränken. Seither sanken die Teuerungsraten nachhaltig. Höhepunkt dieser Bestrebungen war der Maastrichter Stabilitätspakt von 1992 – möge er in Frieden ruhen.

1992 ist ein Datum, dass interessanterweise mit Hobsbwams Ende des Zeitalters der Extreme zusammenfällt. Die Corona-Krise von 2020 scheint heute in Sachen Geld- und Fiskalpolitik definitiv ein neues Zeitalter der Extreme einzuläuten. Die zunehmenden Handelskriege, geopolitischen Spannungen und Massendemonstrationen deuten leider auch auf der politischen Ebene darauf hin, dass die ruhige und stabile Welt von gestern der Vergangenheit angehört.


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