18.11.2020

Wenn der Ausgang zu eng wird

Die Finanzmärkte funktionieren meist sehr effizient – bis zu dem Punkt, an dem die Positionierung der Marktteilnehmer zu einseitig wird. Dies geschieht immer in Anlagen, die nach langer und stetiger Performance als «sicher» oder «klare Sache» gelten. Damit verlieren Investoren an Wendepunkten zwangsläufig am meisten Geld.

Peter Frech

vonPeter Frech

Fondsmanager

Das furiose Value‐Rally am 9. November zeigte eindrücklich, wie einseitig die meisten Marktteilnehmer inzwischen positioniert sind. Aktien aus dem Energiesektor oder der gebeutelten Reise‐ und Retailbranche sprangen reihenweise um 20% oder mehr in die Höhe. Der Auslöser für die Kurssprünge war die Nachricht eines funktionierenden Impfstoffs gegen den Corona‐Virus. Die Krisengewinner aus dem Techsektor dagegen gaben durchs Band nach: Gemäss Bloomberg verloren die Aktien im FANG‐Index gegenüber der durchschnittlichen Aktie des breiten S&P‐500‐Index ganze 8 Prozentpunkte!

Doch wieso reagierten die Märkte so extrem auf die Nachricht eines Impfstoffs? Es war seit Wochen bekannt, dass im November und Dezember die Studienresultate verschiedener Impfstoffe publik werden sollten. Erste Vorabergebnisse sahen gut aus. Es handelte sich also keinesfalls um einen «Schwarzen Schwan», ein völlig unerwartetes Ereignis. Die extremen Kursbewegungen vom Montag sind nicht mit einer Theorie des Effizienten Marktes vereinbar, bei welcher die Anlegerständig alle verfügbaren Nachrichten in die Kurse einberechnen.

Die Erklärung des Phänomens liegt deshalb nicht in der Nachricht an sich, sondern der Marktreaktion, die sich aus der extrem einseitigen Positionierung der meisten Akteure ergab. Im Jargon der Wallstreet spricht man von einem «Crowded Trade», ähnlich einer überfüllten U‐Bahn oder einem Theatersaal.

Der Vergleich mit einem überfüllten Theatersaal ist sehr stimmig: Die grosse Tech‐Show an der Nasdaq zog seit Jahren immer mehr Investoren an. Dicht an dicht drängelten sich die Anleger, um bei grossen Tech‐Stars wie Amazon und Microsoft dabei zu sein.Wegen der guten Performance dieser Titel in der Corona‐Krise quetschten sich noch mehr Anleger in den längst rappelvollen Saal: Zahllose Aktienneulinge von Trading‐Plattformen wie Robinhood etwa oder an sich konservative Vermögensverwalter, die unter Diversifikation plötzlich den Kauf von fünf verschiedenen Tech‐Themenfonds verstanden.

Für erfahrene Profis wurde es schon länger ungemütlich und sie schielten hinüber in den anderen Saal, wo seit Jahren ein Value‐Trauerspiel gegeben wurde. Die Ränge waren dort praktisch leer. Viele Anleger in Value‐Aktien haben längst das Handtuch geworfen.

Value‐Fonds wurden in den letzten Jahren reihenweise geschlossen. Mehrheitlich zyklische Value‐Aktien waren denn auch in der Corona‐Krise noch einmal die grössten Verlierer. Klar war aber auch, dass ein Impfstoff ihnen am meisten helfen würde.

Beim Timing des Wechsels verliessen sich die Profis darauf, schneller als all die Neulinge im Tech‐Saal zur Value‐Show hinüberwechseln zu können.

Doch die Tür war viel zu eng – dies zeigte die relative Performance am Montag deutlich. Das ist angesichts der extremen Ungleichgewichte am Markt nicht weiter verwunderlich. Apple allein hatte diesen Sommer plötzlich einen grösseren Börsenwert als der ganze US‐Energiesektor, inklusive früherer Giganten wie ExxonMobil oder Chevron. So erklärt sich denn auch, dass selbst grosse Energietitel an einem Tag 15% zulegen konnten, während Apple um 2% fiel.

Doch wie kommt es überhaupt zu solchen Crowded Trades? Die meisten Trades wie auch längerfristigen Investments durchlaufen grob gesagt drei Stufen der Wahrnehmung:

Investments gelten als «gefährlich», wenn viele Anleger damit in der jüngeren Vergangenheit Geld verloren haben. Aktuell wären das zum Beispiel wie erwähnt der Energiesektor, Rohstoffe generell oder Aktien aus Emerging Markets.Die wahrgenommene Gefährlichkeit heute steht in direktem Kontrast zum Jahr 2011: Damals galten Energietitel, Rohstoffe und Emerging Markets als «sichere Sache», glaubte doch jeder zu wissen, dass die Rohstoffpreise wegen Chinas Nachfrage und der lockeren Geldpolitik der Notenbanken nur steigen würden.

Umgekehrt galten Tech‐Titel 2011 und auch noch weit ins 2012 hinein als «gefährlich». Das Platzen der Internet‐Blase im Jahr 2000 und eine Dekade massiver Underperformance mit Tech steckte den Anlegern noch in den Knochen. Durch die damals neuen Smartphones war der «Tod des PC» in aller Munde. Entsprechend wurden Aktien wie Microsoft, Lam Research oder Nvidia als schrottbillige Value‐Aktien gehandelt mit Free‐Cashflow‐Renditen von 10% und mehr.

Irgendwann um das Jahr 2015 herum wurden Tech‐Titel dann plötzlich wieder «akzeptabel» und das Schlagwort der FANG‐Aktien begann sich zu verbreiten. Heute gelten Tech und die FANGs als «sichere Sache»: Man gewinnt damit bei steigenden Börsen und outperformt auch bei fallenden Märkten wie im Corona‐Crash dieses Frühjahrs – so lautet zumindest der weit verbreitete Anlegerglaube.

Tech‐Titel sind damit zu einem Crowded Trade geworden. Praktisch jeder ist dabei, vom Börsen‐Neuling bis hin zum zynischen Veteran, der es eigentlich besser weiss und bereits auf den Ausgang schielt.

Crowded Trades sind logischerweise nur in populären Anlagen möglich. Populär werden Anlagen nur, wenn sie als «sichere Sache» wahrgenommen werden: Möglichst stetige Gewinne und wenig Verlustrisiko in der jüngeren Vergangenheit sind dafür eine notwendige Voraussetzung. Hinzu kommt eine gute und möglichst eingängige Story, wieso es mit diesen populären Anlagen auch in Zukunft immer so schön weitergehen wird.

Die Sadistische Theorie der Märkte

Die Kombination von breitem Anlegerinteresse, zwangsläufig hohen Preisen und wahrgenommener Einbahnstrasse nach oben führt zu einer explosiven Mischung. Gemäss der «Sadistischen Theorie der Märkte» gehen die Marktpreise schlussendlich immer den Weg, welcher den meisten Anlegern am meisten Schmerz verursacht. Damit möglichst viele Anleger involviert sein können, muss ein Investment als «sichere Sache» wahrgenommen werden. Nur so wagen auch Anleger mit eigentlich geringer Risikotoleranz den Einstieg. Die breite Masse kann somit nur nach einer längeren Boomphase zu hohen Preisen nahe dem Top einsteigen.

Populäre «sichere Sachen» enden eigentlich immer in einem Desaster: Tech‐Aktien im Jahr 2000, US‐Immobilien 2006, zyklische Value‐Aktien 2008, Rohstoffe und Emerging Markets 2011, Konsumgüter‐Aktien wie Tabak und Low‐Vola‐Strategien 2016 und so weiter.

Neben dem Techsektor sind die Crowded Trades von heute Immobilienanlagen in vielen Ländern und damit zusammenhängend die festverzinslichen Wertpapiere generell. Sie gelten als «sichere Sache», weil ja jeder weiss, dass die Zinsen noch lange Zeit nicht steigen werden.

Wir vermeiden diese Crowded Trades und kaufen lieber Anlagen, die jeder für «gefährlich» hält. Die Renditeaussichten sind damit besser und falls wir uns mal irren, ist auch der Ausgang breit genug.

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