12.05.2022

Tipps für den Ausstieg

Mit dem Abstossen von Aktien tun sich die meisten Anleger schwerer als mit dem Kaufen. Die Gründe dafür sind in der menschlichen Psyche zu suchen. Es folgt eine Reihe von praktischen Tipps für das Verkaufen von Aktienpositionen und anderen Investments.

Peter Frech

vonPeter Frech

Fondsmanager

Fragen Sie einen erfahrenen Investor, was er für den schwierigsten Teil seines Metiers hält, und die Antwort wird nicht selten lauten: Das Verkaufen einer Position. Das Kaufen von Aktien und anderen Anlagen erscheint dagegen kinderleicht. Es gibt Tausende von Büchern und Artikeln zum Thema, welche Wertpapiere man wann und wie kaufen soll. Doch es gibt fast keine Bücher und Tipps zum richtigen Verkaufen. Wieso?

Rein logisch betrachtet, ist der optimale Verkauf einer Position genauso wichtig wie das Kaufen. Doch ganz offensichtlich fällt das Verkaufen den meisten Menschen wesentlich schwerer. Die Ursache dafür ist in der Psychologie zu finden.

Der erfahrene Finanzberater Donald Cassidy, der mit «It’s When You Sell That Counts» das wohl beste Buch zum Thema geschrieben hat, erklärt den Unterschied wie folgt: «Verkaufen erfordert eine komplette Umkehr unseres Denkens. Als wir eine Aktie gekauft haben, waren ihre Aussichten wunderbar, sie stellte für uns einen Wert und eine Chance dar. Der Verkauf erfordert eine Drehung um 180 Grad. Die Erteilung des Verkaufsauftrags bedeutet, dass nicht mehr gilt, was wir einst für wahr gehalten hatten. Die Firma ist nicht mehr unterbewertet oder ihre Aussichten sind nicht mehr so gut, wie wir gedacht haben.»

Diese komplette Umkehrung des eigenen Denkens in Bezug auf eine Position ist viel schwieriger als das schlichte und loyale Halten. Es widerspricht dem menschlichen Bedürfnis nach Kontinuität, Integrität und Perfektion. Schliesslich ändern wir unsere Lebenspartner, Sportvereine oder politischen Positionen auch nicht alle paar Wochen.

Die Endgültigkeit des Verkaufens ist unangenehm wie der Tod

Das Kaufen entspricht der Eröffnung neuer Möglichkeiten, einem hoffnungsvollen Start voller Optimismus und Zukunftsfreude in Erwartung von Gewinnen. Den meisten Menschen fällt das Kaufen leicht. Das Verkaufen dagegen bringt eine Endgültigkeit mit sich wie der Tod: Das Spiel ist aus, es wird Bilanz gezogen – oft mit schlechtem oder suboptimalem Resultat.

Die Endgültigkeit des Verkaufens besiegelt die Hoffnung auf ein besseres Ergebnis. Cassidy vergleicht das Verkaufen mit unangenehmen Erfahrungen wie dem Ausräumen der Wohnung der verstorbenen Grossmutter, dem Ende der Schulzeit oder des Arbeitslebens, der Besiegelung einer gescheiterten Ehe durch den Scheidungsrichter oder dem Begräbnis eines nahen Freundes oder Familienmitglieds. Das alles sind traurige Ereignisse. Darum versuchen die meisten Menschen, Erfahrungen von ähnlicher Endgültigkeit zu vermeiden, wo immer es geht.

Durch das schlichte Halten einer Position können all die negativen Gefühle und eine endgültige Abrechnung vermieden werden. Viele Anleger halten deshalb Aktien viel zu lange, oft über viele Jahre oder gar Jahrzehnte. Sei es in der Hoffnung auf Besserung und Rückkehr zum Einstandspreis oder sei es, weil sie mit der Position auf schönen Buchgewinnen sitzen und das gute Gefühl, richtig gelegen zu haben, nicht riskieren möchten.

Ist die Tendenz, Verkäufe zu vermeiden, allzu stark ausgeprägt, mutieren Aktiendepots über die Zeit zu regelrechten Museen: Da finden sich dann Titel der letzten oder gar vorletzten grossen «Zukunftsbranche», die auf dem Top des damaligen Hypes gekauft wurden und auch Jahre später noch meilenweit vom Einstandspreis entfernt liegen. Oder die Gewinner aus längst vergangenen Zeiten, die im Depotauszug immer noch ein schönes Plus aufweisen, obwohl die Titel vielleicht seit Jahren nicht mehr weiter gestiegen sind. Kurzum, ein Investor, der nie verkauft, wird fast zwangsläufig zum Sammler von schlechten Aktien.

Rein rational betrachtet ist klar, dass Gefühle wie Verlustaversion oder die Abneigung, sich Fehler einzugestehen, beim Investieren keine Rolle spielen dürfen. Auch der Einstiegskurs muss für eine Verkaufsentscheidung irrelevant sein. Einzig die zukünftige Perspektive einer Aktie vom aktuellen Kurs aus und im Vergleich zu allen anderen Anlagealternativen sollte eine Rolle spielen.

Dieses Abwägen zukünftiger Perspektiven und aller Alternativen ist natürlich unendlich komplex. Doch das soll keine Ausrede sein, es nicht immer wieder zu versuchen. Donald Cassidy offeriert deshalb eine ganze Reihe von praktischen Tipps und Strategien, wie ein Anleger zu einem besseren Verkäufer wird:

1. Mit Fehlern umgehen lernen

Alle Investoren machen an der Börse ständig Fehler, auch ein Superstar wie Warren Buffett. Sich zuzugestehen, dass Fehler beim Investieren unvermeidbar sind, ist ein erster Schritt zur Besserung des Verkaufsverhaltens. Perfektion ist unmöglich. Oft fällt dies besonders ehrgeizigen Musterschülern oder Topmanagern schwer, die es gewohnt sind, mit Brillanz, Willenskraft und harter Arbeit Erfolg zu haben. Ingenieure, Programmierer und Bürokraten haben meist Mühe mit der Unberechenbarkeit der Finanzmärkte. Natürlich sind Intelligenz und Sorgfalt beim Investieren nützlich, aber eben bei weitem keine Garantie für Anlageerfolg. Akzeptieren Sie, dass Fehler beim Investieren unvermeidbar sind. Betrachten Sie die Kosten jedes Fehlentscheids als Lehrgeld in der Ausbildung zu einem besseren Investor. Dadurch setzen Sie sich mit Fehlern konstruktiv auseinander und können aus ihnen lernen, anstatt sie zu leugnen.

2. Regelmässig ausmisten

Ein einfacher Weg, um unangenehme Aufgaben zu vermeiden, ist die Leugnung. «Diese Aktie wird sich schon wieder erholen, das ist nur eine irrationale Laune des Markts», wäre ein Spruch, der in diese Richtung geht. Es ist an der Börse leider nie leicht zu unterscheiden, ob alles in Ordnung ist oder ob wirklich ein Fehler gemacht wurde, der aus emotionalen Gründen geleugnet und wegrationalisiert wird. Ein gutes Mittel, um Leugnung und Lähmung vorzubeugen, ist das regelmässige Ausmisten des Depots. Es ist wie beim Gärtnern: Altes Holz muss zurückgeschnitten werden, damit neue Triebe wachsen können. Setzen Sie fest, dass einmal jährlich oder vielleicht sogar quartalsweise eine Position in ihrem Depot verkauft wird – ganz ohne Ausnahmen. Wenn Sie wissen, dass sie eine Aktie verkaufen müssen, fangen sie automatisch an, die Zukunftsaussichten einer Position mit derjenigen aller anderen zu vergleichen. Damit ist der Sinn des Ausmistens erreicht. Wenn Sie erst Mal mit dem Müllsack im überfüllten Keller stehen, erkennen Sie relativ schnell, was sie wirklich noch brauchen und was nicht.

3. Sie trennen sich von Aktien, nicht Firmen oder Personen

Es ist beim Verkaufen dasselbe wie beim Kauf von Aktien: Lassen Sie Ihre Vorlieben oder Abneigungen gegen eine Firma oder eines ihrer Produkte nicht den Anlageentscheid dominieren. Es geht ums Investieren, nicht um Loyalität. Entsprechend spielt der aktuelle Preis eines Investments die entscheidende Rolle: Sind alle rosigen Zukunftsaussichten schon im Kurs enthalten? Oder ist der Markt zu pessimistisch, weil die Probleme lösbar und vorübergehend sind? Das sind die wichtigen Fragen beim Kauf wie Verkauf. Stossen Sie die Apple-, Google- oder Nestlé-Aktien ab, wenn sie zu teuer geworden sind. Sie dürfen deshalb immer noch ein neues iPhone kaufen, die Google-Suchmaschine benutzen oder den Nespresso-Laden betreten. Die alte Wallstreet-Weisheit, man solle sich nicht mit seinen Positionen verheiraten, hat darin ihren Ursprung. Eine Aktie hat keine Gefühle, die Sie verletzten könnten.

4. Die Party verlassen, wenn es am schönsten ist

Sie sind mit allen oder fast allen Positionen im Plus und haben in letzter Zeit fantastische Anlagerenditen erzielt? Gratulation! Doch es wird mit Sicherheit nicht so bleiben. Niemand erwischt über längere Zeit nur Gewinner. Zu viel Erfolg führt an der Börse oft zu Selbstüberschätzung. Kostspielige Fehler wie die Spekulation auf Kredit oder der Kauf von immer riskanteren Titeln folgen meist auf ein gute Phase. Ein Depot voll mit fetten Buchgewinnen ist selten der Beweis, dass ein Anleger nun «den Dreh raus hat». Viel eher ist es ein Hinweis, dass man aus Glück oder Können gerade eine gute Welle in einem Sektor oder am Gesamtmarkt erwischt hat. Meistens ist es dann bis zu einer Korrektur nicht mehr weit. Es mag frustrierend klingen, doch der beste Verkaufszeitpunkt ist in der Regel, wenn Sie sich mit Ihrem Depot gerade besonders gut fühlen. Ertappen Sie sich dabei, wie sie plötzlich mit Ihren Anlageerfolgen prahlen, ungewohnt teure Anschaffungen tätigen oder öfters als üblich das Depot checken, dann deutet dies auf eine Phase übersteigerten Selbstvertrauens hin. Verlassen Sie die Party, bevor man sie rauswirft.

5. Zuviel Gier ist schlecht

«Greed is good», predigte einst Michael Douglas in seiner berühmten Rolle als Gordon Gekko im Film «Wallstreet». Das mag für die Wirtschaft als Ganzes stimmen. Doch als Anleger immer noch den letzten Cent rauspressen zu wollen, ist dem langfristigen Erfolg eher abträglich. So gut es sich auch anfühlt, recht gehabt zu haben und einer Aktie dabei zuzusehen, wie sie steigt und steigt, fragen Sie sich immer wieder, ob die erwartete Zukunft nun eingepreist ist und ob es überhaupt noch besser kommen kann. Wenn eine Position gut gelaufen ist, steigt die Versuchung, zu gierig zu werden: «Es wäre eigentlich Zeit zum Verkaufen, doch die nächsten fünf Prozent/fünf Tage bleibe ich noch drin.» Wenn Sie sich solche Sätze sagen hören, dann sollten Sie sofort verkaufen. In dieselbe Richtung geht das verbreitete «Greater Fool Investing»: Ein Anleger erkennt ganz offen an, dass eine Aktie sinnlos teuer geworden ist. Doch er ist überzeugt, dass sich noch ein «grösserer Narr» finden wird, der ihm den Titel teurer abkauft. Damit begibt sich ein Investor auf ganz dünnes Eis. Die Annahme, dass die Mehrheit der Investoren wesentlich dümmer ist als man selbst, ist Hybris, die von den Börsengöttern meist umgehend bestraft wird.

6. Der Schwiegermutter-Test

Das Halten einer Aktie macht keinen Sinn, wenn Sie diese auf dem aktuellen Niveau nicht neu kaufen würden. Ein guter Trick, um die Tendenz zu umgehen, hier mit zweierlei Ellen zu messen, ist der Schwiegermutter-Test. Nehmen Sie an, Ihre Schwiegermutter bittet Sie um einen Aktientipp. Wir nehmen auch an, dass Sie es grundsätzlich gut meinen mit Ihrer Schwiegermutter. Welche Aktien in Ihrem Depot würden Sie der Schwiegermutter nicht mehr zum Kauf empfehlen? Diese Titel sollten Sie umgehend verkaufen. Denn wenn deren Zukunftsaussichten nicht mehr gut genug sind für Ihre Schwiegermutter, wieso sollten Sie diese Titel dann halten?

7. Schlechte Nachrichten richtig einordnen

Eine Firma in Ihrem Depot bringt schlechte Quartalszahlen oder sonst eine Horrormeldung. Der Kurs stürzt sogleich ab. Was sollen Sie tun? Die richtige Einordnung von schlechten Nachrichten ist etwas vom Schwierigsten überhaupt. Die Theorie ist einfach: Allein weil der Kurs fällt, besteht noch kein Grund zum Verkaufen. Nur wenn sich an den neuen Aussichten in Relation zum neuen, tieferen Kurs etwas geändert hat, ist ein Verkauf angebracht. Ein guter Test dafür ist die Unterscheidung zwischen kurzfristigen und langfristigen Konsequenzen der schlechten News. Handelt es sich um einen eher kurzfristigen Effekt wie ein schlechtes Quartal, einen zyklischen Gewinneinbruch, den verzögerten Start eines neuen Produkts oder den Imageschaden eines Landes oder einer Branche, die auf den Titel abfärbt, so ist Halten oder Zukaufen meist die richtige Reaktion. Eine langfristig gute Aktie gibt es plötzlich mit Discount. Ist der Effekt jedoch längerfristiger und potenziell existenzbedrohender Natur, ist etwa das Kerngeschäft der Firma vom Untergang bedroht, die Firma wird von einem Schuldenberg erdrückt, es gibt Anzeichen für grobes Missmanagement oder Betrug, dann ist sofortiges Verkaufen angesagt.

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