17.11.2019

Kapitalströme ins Verderben

Es wird so viel Geld wie noch nie in die Produktion von neuen Filmen und Serien gepumpt. Neue Anbieter mit tiefen Taschen wie Apple oder Disney mischen im Streaming über das Internet mit. Wenn viel Kapital in einen Sektor oder eine Anlageklasse fliesst, sind die zukünftigen Renditeaussichten meistens miserabel.

Peter Frech

vonPeter Frech

Fondsmanager

Quizfrage: Wenn haufenweise neue Wettbewerber mit viel Kapital auf einen Markt drängen, sinken oder steigen dann die Gewinne für die etablierten Anbieter?

Die Gewinne fallen natürlich, sagen die gängigen Wirtschaftslehrbücher und der gesunde Menschenverstand. Die Börse ist aber oft anderer Meinung: Erscheint der neue Markt nur heiss und zukunftsträchtig genug, so können alle Gewinner sein. Anders ist die derzeit euphorische Einstellung der Anleger zur Aktie jedes Anbieters von Video-Streaming nicht zu erklären.

Am Dienstag ist mit Disney+ der neuste Wettbewerber ins Rennen um die Gunst der Zuschauer gegangen. Mit 6.99 Dollar je Monat kostet der Streaming-Dienst des Mickey-Maus-Konzerns nur rund die Hälfte des Standardangebots des Marktführers Netflix. Die Disney-Aktie notiert nahe bei ihrem Allzeit-Hoch, obwohl der Konzern selber wegen des Streamings für Jahre fallende Free Cashflows voraussagt.

Kurz zuvor lancierte Apple seinen Service für nur 4.99 Dollar je Monat. Für Käufer eines neuen iPhones ist Apple+ ein Jahr lang gratis. Die Reaktion des Aktienmarktes auf das Dumping-Angebot? Die Apple-Aktie kletterte auf ein neues Allzeithoch.

Weitere gewichtige Konkurrenten stehen für nächstes Jahr in den Startlöchern: Der Telekom-Riese AT&T lanciert HBO Max, der Kabelkonzern Comcast plant mit Tochter NBCUniversal den Streaming-Dienst Peacock. Bereits ist von den «Streaming Wars» die Rede.

Nun mag es theoretisch Sinn machen, dass die Aktien neuer Mitbewerber an Wert gewinnen, wenn zugleich die etablierten Anbieter verlieren. Doch dies ist eindeutig nicht der Fall: Die Aktie von Branchenprimus Netflix notiert gerade mal 23% unter ihrem Allzeithöchst. Konkurrent Amazon, mit Amazon Prime die Nummer zwei im Markt, steht rund 10% unter dem Top. Alle neuen Streamer befinden sich auf dem Höhenflug (siehe Grafik).

Jeder kann ein Gewinner sein: Die Grafik zeigt die Gesamtrendite der sechs grössten Streaming-Anbieter seit Jahresbeginn. Alle Titel notieren derzeit im Plus. (Quelle: Bloomberg)

Betrachtet man die Gewinnschätzungen der Analysten für die Aktien der Branche, so fällt auf, dass die Mehrheit für alle ihre Titel mit langfristig steigenden Umsätzen und Gewinnen rechnen. Jeder Streaming-Anbieter wird wachsen und Marktanteile gewinnen, jeder ist überdurchschnittlich.

Dies wird «Fallacy of Composition» genannt: Was für einen Einzelnen richtig ist, gilt keinesfalls in der Zusammensetzung für die Gesamtheit. Wer in einem Fussballspiel aufsteht, sieht das Spiel tatsächlich besser. Stehen jedoch alle Zuschauer auf, gewinnt niemand etwas.

An den Finanzmärkten sind die Zusammenhänge jedoch noch komplexer: Drängen neue Konkurrenten mit viel Kapital in einen Sektor, so schwinden nicht nur die maximalen Marktanteile aller Anbieter, sondern gleichzeitig schiessen durch das viele Geld auch die Herstellungskosten für das Produkt in die Höhe.

Im grossen Rohstoffboom der Nullerjahre konnten wir dies als Goldfondsmanager aus nächster Nähe beobachten: Die Kosten für den Bau neuer Minen explodierten, Baggerfahrer im australischen Outback verdienten 120'000 Dollar im Jahr und Mineningenieure waren eine Zeit lang die bestbezahlten Hochschul-Absolventen.

Die Produktionskosten für Serien haben sich glatt verdoppelt

Hollywood und die Filmindustrie erleben dank den «Streaming Wars» einen beispiellosen Boom. Im vergangenen Jahr wurden 495 neue Serien gezeigt, mehr als doppelt so viele wie 2010. Die durchschnittlichen Produktionskosten je Folge stiegen gemäss Bloomberg auf 6 Millionen Dollar im Vergleich zu 3 Millionen vor 3-4 Jahren. Satte 12 Millionen je Folge liess sich Apple seine neue und eher mässig bewertete «The Morning Show» kosten – das ist sogar mehr als die 10 Millionen, die HBO zuletzt für die Erfolgsserie «Game of Thrones» aufgeworfen hat.

Das freut die Schauspieler, Filmteams und Drehbuchschreiber, die umworben werden wie noch nie. Die Zuschauer haben ihren Spass an dem rapide wachsenden Angebot an neuen und qualitativ hochstehenden Serien und Filmen – auch wenn es zunehmend schwieriger werden dürfte, den Überblick zu behalten.

Doch welcher Streaming-Anbieter soll damit Geld verdienen? Auf absehbare Zeit wird dies niemand. Der Marktführer Netflix mit 150 Millionen Abonnenten ist defizitär und gibt dieses Jahr 15 Milliarden für neue Produktionen aus. Abzüglich der Einnahmen bleibt ein Loch von 3.5 Milliarden Dollar, das mit zusätzlichen Krediten gestopft werden muss. Netflix sitzt bereits auf 12 Milliarden Schulden und hat zudem 20 Milliarden an langfristigen Verpflichtungen für neue Serien in den Büchern.

Als Reaktion auf die neue Konkurrenz gibt Netflix-CEO Reed Hastings noch mehr Gas: Die Ausgaben für neuen Content sollen sogar weiter gesteigert werden. Man darf ihm Glück wünschen im Kampf gegen die Newcomer Apple und Disney mit viel tieferen Taschen und gleichzeitig nur halb so hohen Preisen für ihre Dienste. Die Frage ist nur, wie lange die Kapitalmärkte das Märchen von der Profitabilität im Streaming-Land noch glauben. Der Netflix-Aktie droht der Absturz, sollte sich das Abonnentenwachstum nur schon verlangsamen. Dreht der Anleihenmarkt der Firma den Kredithahn zu, winkt der Konkurs oder der Notverkauf an einen Mitbewerber.

Im grossen Streaming-Krieg von 2020 werden höchstwahrscheinlich alle Teilnehmer zu Verlierern. Auch wenn das die Börse derzeit anders sieht, halten wir keine der sechs Aktien für einen Kauf. Wer die tiefsten Taschen hat, dürfte das kommende Massaker überleben und eines fernen Tages gutes Geld verdienen, wenn sich Streaming als Vergnügen für jeden Haushalt etabliert hat. Wer der Gewinner sein wird, wissen wir nicht.

Herkömmliche TV-Sender sind die klaren Verlierer

Klare Verlierer sind dagegen schon heute offensichtlich. Traditionelle TV-Sender sind seit einiger Zeit im Niedergang. Google und Facebook fressen ihnen die Werbeeinnahmen weg. Jetzt verlieren sie durch die Streaming-Konkurrenz zusätzlich an Zuschauern: Junge Amerikaner verbrachten in den letzten fünf Jahren jedes Jahr markante 20% weniger Zeit vor der herkömmlichen Glotze. Sinkende Zuschauerzahlen bedeutet noch weiniger Werbeeinnahmen. Gleichzeitig steigen die Kosten für die Produktion von wettbewerbsfähigen TV-Programmen immer weiter ins Unerschwingliche. Sinkende Cashflows, höherer Investitionsbedarf und meist hohe Schulden machen die einst so soliden TV-Aktien allesamt zu Pleitekandidaten.

Konklusion für Investoren

Nicht nur im Streaming, sondern generell gilt bei der Geldanlage: Fliesst immer mehr Geld in einen Sektor oder ein Anlagesegment, so schwinden nach der Logik der Ökonomie und der historischen Erfahrung die zukünftigen Ertragsaussichten. Je mehr die euphorischen Anleger einen Bereich mit Geld zuschütten, desto eher empfiehlt sich für den klugen Investor der strategische Rückzug.

Derzeit wird in fast allen Ländern wegen der tiefen Zinsen viel Geld in den Immobilienmarkt gepumpt. Die Baukosten steigen, aber auch die Preise für alte Objekte, was die Mietrenditen sinken lässt. Ein altbekannter Film spielt sich ab.

Noch rekordverdächtigere Geldzuflüsse verzeichnet der Private-Equity-Bereich. Hunderte Milliarden mehr jedes Jahr sollen verwendet werden, um derzeit ohnehin teure Aktien von der Börse aufzukaufen und ihnen mittels hoher Kredithebel und scharfer Kosteneinschnitte noch etwas mehr Rendite abzupressen. Ein Trend, der erfahrungsgemäss in einem Blutbad enden wird.

In den Nullerjahren waren Hedge Funds die angesagte Anlageklasse, die Jahr für Jahr Rekordzuflüsse verzeichnete. Doch von der Finanzkrise von 2008 bis heute zeigte sich, dass die vermeintlichen Superstars mit all dem vielen Geld bis dato nur noch mickrige Renditen erzielen konnten.

Der Umkehrschluss ist dagegen oft genauso wahr: Je mehr Geld aus einem Sektor oder einem Anlagesegment abfliesst, desto eher steigen die zukünftigen Renditen für die verbliebenen Akteure. Aus dieser Sicht ist es für uns ein gutes Zeichen, dass aktiv gemanagte Aktienfonds seit Jahren massive Mittelabflüsse verzeichnen. Je mehr die Anleger nur noch passiv in Indexfonds investieren, desto eher dürfte es zukünftig zu Fehlbewertungen kommen, die aktive Investoren wie wir ausnutzen können.

Es ist deshalb eine lohnende Tätigkeit für Anleger in allen Marktsegmenten, immer ein Auge auf die Kapitalströme zu haben. In Sachen Streaming-Aktien halten wir unser Geld lieber raus und geniessen nur die Show, die derzeit auf den Bildschirmen läuft.


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