14.09.2023

Alte Aktien leben länger

Der Markt überschätzt meist den Erfolg neuer Firmen und zahlt zu viel für Eintagsfliegen, die beim ersten richtigen Gewitter untergehen. Diese Gefahr droht heute dem Hype um Künstliche Intelligenz. Alte Unternehmen dagegen haben ihre Robustheit gegenüber Veränderungen bewiesen und besitzen dank des Lindy-Effekts auch wesentlich höhere Chancen auf anhaltend gute Renditen in der Zukunft.

Peter Frech

vonPeter Frech

Fondsmanager

Ein kleines Quiz für Zukunftsgucker: Welcher Popsong wird in 40 Jahren noch gespielt werden, der diesjährige Sommerhit «Ella Baila Sola» oder “Every Breath You Take” von The Police aus dem Sommer 1983? Welches Buch werden die Leute 2063 eher noch lesen, Ferdinand von Schirachs aktuellen Bestseller “Regen” oder den 80er Jahre Dauerbrenner «Der Herr der Ringe» von J.R.R. Tolkien?

Wer in unserer schnelllebigen Zeit in die Zukunft blicken will, ist oft am besten mit einem Blick in die Vergangenheit beraten. Der «Lindy-Effekt» besagt, dass die Zukunftsaussichten von nichtmateriellen Dingen wie Ideen und Technologien mit ihrem Alter besser werden.

Zu diesem Schluss kamen Broadway-Producer, welche in einem New Yorker Restaurant namens «Lindy’s» die Beobachtung machten, dass sich die verbleibende Lebenserwartung einer Comedy-Show am besten aus ihrer bisherigen Spieldauer vorhersagen liess. Shows, die schon seit einem Jahr aufgeführt wurden, hatten eine gute Chance, nochmals ein Jahr weiterzuleben. Für erst seit zwei Wochen aufgeführte Shows war dagegen die Restlebenserwartung meistens nur sehr kurz.

Die eingangs erwähnten Popsongs und Bücher, die sich schon seit 40 Jahren am Markt behaupten konnten, haben deshalb eine gute Chance, auch ein gutes halbes Jahrhundert in der Zukunft noch beachtet zu werden.

Später wurde der Lindy-Effekt vom Mathematiker Benoit Mandelbrot formalisiert und vom Risiko-Philosophen Nassim Taleb in seinen Büchern zu Anti-Fragilität und Robustheit wieder aufgegriffen. Dinge und Ideen, die sich seit längerer Zeit behaupten konnten, altern gemäss Taleb «rückwärts»: Jedes verstrichene Jahr, in dem sie nicht untergegangen sind, erhöht ihre zukünftige Lebenserwartung.

Dies steht ganz im Gegensatz zu organischen Dingen und Lebewesen. Die restliche Lebenserwartung der Buchautoren und Sänger schrumpft natürlich wie die aller Menschen mit jedem verstrichenen Jahr – die ihrer nicht-materiellen Kreationen verlängert sich dagegen.

„Halte dich an alte Gesetze und frische Speisen», empfahl schon der Tyrann und Philosoph Periander von Korinth vor 2500 Jahren. Ein weiser Rat für die aktuelle Generation von Politikern, welche mal wieder mit einer Flut von neuen Gesetzen den Durchbruch von «zukunftsträchtigen Technologien» im Bereich Energieversorgung und Elektromobilität erzwingen wollen, obwohl sich diese am freien Markt bisher nicht durchsetzen konnten.

Der Lindy-Effekt lässt sich für fast alle Lebensbereiche verallgemeinern: Alte Klassiker und Geschichtsbücher zu lesen, bringt meist mehr Erkenntnis als mehrmals täglich die «News» zu checken. Alte Freundschaften sollten gepflegt werden, da sie sich schon lange bewährt haben und so weiter.

Der Lindy-Effekt bei der Aktienselektion

Auch beim Investieren lassen sich die Überlegungen des Lindy-Effekts anwenden: Alte Unternehmen, welche zwangsläufig schon viele Krisen überlebt haben, sollten auch bessere Zukunftsaussichten haben als die Newcomer der Stunde. Die Mehrheit der heissen IPOs und SPACs aus dem wilden Boom von 2020/21 dürfte die nächste Krise nicht überleben: Ihre Produkte, Prozesse und Bilanzen waren einfach noch zu wenig dem Test der Zeit ausgesetzt.

Viele Anleger kaufen jedoch immer gerne den neusten Modetrend und versprechen sich fantastische Gewinne davon. Weil sie für junge Zukunftsaktien meist viel zu viel bezahlen, gehen diese Investments selten auf. Rob Arnott von Research Affiliates hat mit Blick auf den aktuellen Hype um Künstliche Intelligenz und Nvidia untersucht, was aus den Superstars der Techblase des Jahres 2000 geworden ist. Von den zehn grössten Tech-Aktien schaffte es mit Microsoft nur eine einzige, bis heute besser als der S&P-500-Index abzuschneiden – und dies auch erst dank des jüngsten Booms. Davor waren auch die Microsoft-Aktionäre lange 18 Jahre hinter dem Index zurückgeblieben.


Von den zehn Dotcom-Superstars des Jahresendes 1999 hat bis heute nur eine Aktie, Microsoft, den S&P-500-Index (schwarze Linie) geschlagen. (Quelle: Research Affiliates)

Den Gewinn versechzigfacht und trotzdem ein Underperformer

Das eindrücklichste Beispiel für zu viel Zukunftserwartung ist Qualcomm: Die Designfirma für Mobilfunk-Chips wurde auf dem Peak im Dezember 1999 zum 278-fachen ihres Gewinns gehandelt. Obwohl das Unternehmen seine Gewinne in der Folge um das 60-fache steigern konnte, war die Qualcomm-Aktie ein Flop.

14 Jahre lang war der Titel unter Wasser und bis heute beträgt der Gesamtertrag nur 88% im Vergleich zu 305% des S&P-500-Index. Der Optimismus bezüglich Qualcomms Zukunft war berechtigt, doch der Aktienpreis zu hoch – eine klare Warnung für die Fans von Nvidia und Co.

Technologie-Aktien sind naturgemäss unbeständig. Die viel zitierten Disruptoren sind selbst auch sehr anfällig für Disruption durch neue Konkurrenten. Sun Microsystems und AOL verschwanden ganz von der Bildfläche. Die grossen zukünftigen Tech-Gewinner wie Google oder Facebook waren im Jahr 2000 noch gar nicht an der Börse. Amazon und Apple gab es zwar schon, beide waren aber relativ klein und nicht unter den Top Ten in Sachen Marktkapitalisierung.

Rob Arnott bringt das Problem für Stockpicker auf den Punkt: «Die zukünftigen Gewinner der KI-Revolution auszuwählen ist wie Amazon, Apple und ADP anfangs 2000 zu kaufen, denn diese waren die einzigen drei Aktien aus den Top-40-Techtiteln, welche in den folgenden 23 Jahren zweistellige Renditen einbrachten».

Warren Buffet setzt deshalb auf alte Aktien

Erfahrene Börsianer wie Altmeister Warren Buffett bevorzugen auf Grund dieser Unsicherheit gerne die Aktien von alten, oft über hundertjährigen Firmen wie Coca-Cola (1886 gegründet), Chevron (1879), Kraft Heinz (1869), American Express (1850) oder BNSF Railway (1849). Seine grösste Position Apple ist die Ausnahme, jedoch mit Gründungsjahr 1976 auch kein Jungspund mehr. Bei seinem Einstieg 2016 hatte sich Apple zudem bereits eine sehr dominante Marktstellung erworben.

Die alten Firmen in Buffetts Portfolio haben zwei Weltkriege, die Grosse Depression der 1930er Jahre und die Hochinflation der 1970er Jahre überstanden – ein Zeichen für die Robustheit ihres Geschäftsmodells. Sie verkaufen zudem alle heute noch mehr oder weniger dasselbe Produkt wie vor 150 Jahren.

Dies mag neuerungssüchtigen Anlegern zuweilen ein Gähnen entlocken. Doch sich nicht ständig neu erfinden zu müssen, ist für Unternehmen in der Regel ein Segen: Denn die Entwicklung neuer Produkte sowie die Erstellung neuer Fertigungsanlagen verschlingt Kapital. Wer seit jeher dasselbe verkauft, braucht weniger Investitionen zu tätigen und hat tendenziell mehr Free Cashflow für die Aktionäre übrig. Ausserdem sind die zukünftigen Free Cashflows dieser Unternehmen eher abschätzbar als die von jungen Startups.

In unseren Anlagefonds halten wir derzeit relativ viele Titel aus solchen langweiligen, aber historisch lang bewährten Sektoren wie Tabak (Philip Morris und BAT), Bier (Anheuser-Busch und Ambev), Tankstellen (Alimentation Couche-Tard) und alten Ölmultis (Shell, Total, BP, PetroBras). Alle liegen nicht besonders im Trend, sind aber deshalb günstig bewertet und haben ihre Langlebigkeit unter Beweis gestellt.

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