20.09.2018

Von Ölbaronen und Buchhändlern

Informationskaskaden sind ein kleines Gebiet in den Computerwissenschaften, welches viel mehr mit Behavioral Finance zu tun hat als mit Informatik. Sie können einen erfolgreichen Unternehmer zu falschen Entscheidungen führen, aber auch Aktien an der Börse zu einem prächtigen Momentum verhelfen.

Maurice Rüegg

vonMaurice Rüegg

Anlagestrategie & IT-Entwicklung

Stellen Sie sich vor, Sie sind ein texanischer Ölbaron, 190 cm gross, 120 kg schwer, mit Cowboyhut und -stiefeln, erfolgreich, gewieft und erfahren. Ihren Erfolg verdanken Sie ihrer Intelligenz und – wenn Sie ehrlich mit sich sind – dann auch ihrem Bauchgefühl, der Intuition und einer Gabe, zu sehen, was andere nicht sehen: schon früh haben Sie erkannt, dass man mit Bohren nach Öl viel, viel reicher werden kann als durch das Züchten von Rindern.

Eines Tages wird ein grosses, bis jetzt unberührtes Stück Land zum Verkauf angeboten. Sie, Ihr Nachbar und Konkurrent, sowie weitere acht Ölbarone interessieren sich dafür und kommen zur Auktion des Stücks zusammen. Sie haben einen Geologen beauftragt, dessen Studien sagen, dass das Land reich an Öl ist. Der Geologe des Nachbarn ist sich unsicher. Die weiteren acht Ölbarone glauben, das Land sei wahrscheinlich nichts wert. Aber schliesslich sind sie immer bedacht, keine Möglichkeit zu verpassen.

Die Auktion beginnt, und Sie bieten als erster ziemlich viel Geld, denn Sie glauben schliesslich an grosse Ölvorkommen auf dem Land. Ihr Nachbar war sich zwar nicht sicher, aber weil Sie viel bieten, bietet er mit und erhöht.

Der erste der acht anderen Ölbarone, der zuerst annahm, das Land sei nichts wert, ist verunsichert. Er bietet ebenfalls mit. Jetzt ist etwas in Gang gekommen, das sich Informationskaskade nennt.

Die weiteren sieben Ölbarone bieten mit und der letzte zahlt einen riesigen Kaufpreis für das Land, obwohl er eigentlich davon ausging, dass es nichts wert sei und keine Ölvorkommen biete. Alle haben rational gehandelt. Das Resultat ist aber eine Katastrophe für den zehnten Ölbaron. Die Studien ihres Geologen haben sich mit denjenigen von acht anderen widersprochen und waren höchstwahrscheinlich falsch. Kein Öl! Teuer gekauft!

Wie entsteht eine Informationskaskade?

 Informationskaskaden wurden von den Ökonomen Bikhchandani, Hirshleifer und Welch 1992 ausführlich beschrieben. Sie entstehen durch die folgenden fünf Komponenten:

  1. Es braucht eine Entscheidung: Welche Kleider soll ich tragen? Essen wir in diesem Restaurant? Kaufe ich diese Aktie?
  2. Der Aktionsraum ist beschränkt oder sogar binär: Ich kann die Entscheidung annehmen oder ablehnen.
  3. Mehrere Akteure treffen Ihre jeweilige Entscheidung nacheinander, und sie beobachten dabei die Entscheidungen derjenigen vor ihnen.
  4. Alle haben ihre eigenen Informationen, die zur Entscheidung beitragen, aber sie beobachten auch die Entscheidungen der anderen.
  5. Die Informationen der anderen sind nicht direkt bekannt, sondern werden nur durch das Beobachten derer Entscheidungen abgeleitet.

Wie im Beispiel der Ölbarone kann bereits nach zwei beobachteten Entscheidungen eine Informationskaskade entstehen. Das Ergebnis kann dabei katastrophal sein, aber auch sehr gut. Stellen wir uns vor, der erste Baron hätte nicht geboten. Das Stück Land wäre gar nicht verkauft worden. Leider aber entstand eine Art von Herdentrieb, aber nicht als Stampede einer Rinderherde (die hätten richtige Texaner vielleicht erkannt), sondern aus purer Nachahmung, weil es der vor einem auch tut.

An der Börse können solche Informationskaskaden verheerend sein – vor allem in unserer heutigen Welt des automatisierten Handels mit Computeralgorithmen. Es wird vermutet, dass der „Flashcrash“ vom 6. Mai 2010 nichts anderes als eine Informationskaskade war. Innerhalb von Minuten stiegen einige Aktien des S&P 500 auf mehr als 100‘000 Dollar pro Aktie, während andere auf bis zu 1 Cent fielen.

Fundamentale und technische Investoren

Auf dem Markt gibt es generell zwei Arten von Investoren: die fundamentalen und die technischen. Computeralgorithmen sind generell technisch oder Momentum-getrieben. Sie treiben den Markt in eine Richtung aufgrund von beobachteten vorherigen Entscheidungen der anderen. Die fundamentalen Investoren bieten hier ein Gegengewicht, indem sie aufgrund dessen handeln, was ein Unternehmen ihrer Ansicht nach wert ist. Aber nicht nur Computer handeln technisch. Was bei schnellen Computern über kurze Zeit zum Flashcrash führen kann, haben wir bei menschlichen Akteuren in der Dot-Com-Blase des Jahres 2000 erlebt. Alle schlossen aufgrund Ihrer Beobachtungen des Markts darauf, selbst zu konservativ zu sein. Niemand hielt es aus, den Jahrtausend-Markt zu verpassen. Oder in der Finanzkrise: alle handelten mit mehrfach verbrieften Hypotheken, obwohl viele selbst zweifelten, dass diese überhaupt etwas wert waren.

Ein texanischer Buchhändler treibt die Herde an

Gehen wir zurück nach Texas. Ebenfalls dort aufgewachsen ist Jeff Bezos, der jeweils im Sommer auf der Ranch seines Grossvaters gearbeitet hat. Sie war damals 100 km2 gross, heute gehören weitere 1100 km2 dazu. Nach Öl hat er nie gebohrt, allerdings arbeitete sein Adoptivvater für Exxon als Ingenieur. Statt Ölbaron wurde er selbst Elektroingenieur, arbeitete an der Wall Street und gründete schliesslich einen Online Buchhandel. Er bekam 300‘000 Dollar Startkapital von seinen Eltern und warnte seine Investoren, dass er zu 70% mit seiner Firma Amazon Pleite gehen würde. Heute ist er der reichste Mann der Welt.

Amazon ist hier und jetzt neben Apple die wertvollste Firma der Welt. Beide sind über eine Billion Dollar wert. Apple gilt unter fundamentalen Investoren seit längerem als Value Titel, denn das Unternehmen macht enorm viel Free Cashflow, hat keine Schulden und eine grosszügige Marge auf seinen Produkten. Amazon auf der anderen Seite hat netto Schulden, macht sechsmal weniger Free Cashflow als Apple und hat eine netto Gewinnmarge von klitzekleinen 2%, zehnmal weniger als Apple. Wieso denn sollen beide Unternehmen gleich viel wert sein?

Unserer Meinung nach helfen Informationskaskaden, die Bewertung von Amazon zu verstehen. Die Aktie ist in aller Munde und allen Zeitungen. Niemand sagt, dass das Unternehmen nichts wert ist (unsere eigene Information), und aufgrund der stetigen Kurssteigerungen scheinen alle anderen ebenfalls wertvolle Informationen zu besitzen. Der Kurs steigt weiter, eventuell verpasst ein Investor die Chance seines Lebens, nicht auch Amazon zu kaufen und zu halten.

Schlussendlich läuft es darauf hinaus, dass die Akteure am Markt eine Aktie kaufen, weil andere diese kaufen, die sie kaufen, weil wieder andere sie kaufen, die sie kaufen, weil…

Oder wie John Maynard Keynes gesagt hat: „Erfolgreiches Investieren bedeutet zu antizipieren, was andere antizipieren.“ Nur zeigt die Erfahrung, dass diese Rekursion der Antizipation meist sehr abrupt in der Tragödie endet. In der Mathematik wurde dies von Alan Turing als „halting problem“ ausführlich beschrieben. Oft sind es auch äussere Einflüsse, die zum Ende einer Kaskade führen. Vielleicht greift plötzlich ein Regulator oder die Politik ins Geschäft von Amazon ein, schliesslich führt das Unternehmen ein Massensterben traditioneller Detailhändler herbei.

Als fundamentaler Investor stand man die ganze Zeit auf der Seitenlinie und hat der Berg- und Talfahrt einer Aktie kopfschüttelnd zugesehen. Das grosse psychologische Problem dabei: während der Bergfahrt schütteln alle anderen den Kopf über den fundamentalen Investor!

Das teuerste Buch aller Zeiten

Zum Schluss nochmals ein witziges Beispiel einer Informationskaskade aus Amazons Kerngeschäft: Im April 2001 wurde das Buch „The Making of a Fly“ von Peter Lawrence auf dem Amazon Marketplace für 23’698'655 Dollar (plus 3.99 Versand) zum Verkauf angeboten. Es zeigte sich, dass zwei Verkäufer ihre Preise für das Buch durch Computeralgorithmen bestimmen liessen. Einer setzte seinen Preis immer auf 0.9983 mal den Preis des anderen, dieser wiederum setzte seinen auf 1.27059 mal den des ersten. Keiner setzte ein Limit nach oben. Der Preis stieg ins Unermessliche, Amazon musste eingreifen. Das Buch ist heute wieder für 15 Dollar zu haben.

Fazit für (fundamentale!) Investoren

Wie Mark Twain sagte: „Whenever you find yourself on the side of the majority, it is time to pause and reflect.“ Nur zu handeln, weil andere von einer Idee überzeugt sind, kann funktionieren, ist aber gefährlich. Es gilt zu unterscheiden, ob man auf einer Welle mitreiten kann ohne überrollt zu werden oder ob man sich in einem Spiel des „finding a greater fool“ wiederfindet, in dem eigentlich niemand daran glaubt, was er macht, aber überzeugt ist, die anderen würden immer daran glauben. Die Welle der Dot-Com-Economy überschlug sich im Jahr 2000 sehr plötzlich und begrub die meisten Investoren für Jahre. Einen Greater Fool zu finden, der einem die verbrieften Hypotheken von maroden Schuldnern abkaufen würde, erwies sich für die Investmentbanken 2008 in der Finanzkrise plötzlich als nicht mehr möglich.

Für uns als fundamentale Investoren sind die Kennzahlen eines Unternehmens ein sinnvoller Anker in der Realität, der uns davor bewahrt, das Opfer von Informationskaskaden zu werden. Ganz nach Warren Buffett würden wir unsere Aktien auch kaufen, wenn die Börse danach für zehn Jahre geschlossen wäre – und wir folglich auch keine Möglichkeit hätten, das Verhalten der anderen zu beobachten.


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