15.11.2023

Überleben ist alles

Ob beim Spitzensport oder Investments: Bei Tätigkeiten mit irreversiblen Risiken ist der Fokus aufs Überleben wichtiger als die Gewinnmaximierung. Die langfristig ideale Strategie unterscheidet sich deshalb vom kurzfristig besten Weg – das gilt auch für Anlagefonds.

Peter Frech

vonPeter Frech

Fondsmanager

Der Ski-Weltcup hat wieder begonnen und wir können die Rennen der schnellsten Skifahrer und Skifahrerinnen der Welt live am TV verfolgen. Doch es sind nicht wirklich die schnellsten Fahrer, die wir auf dem Schirm sehen. Die bekannten Skistars sind so erfolgreich, weil sie regelmässig ohne Verletzung ins Ziel kommen und dabei auch noch ordentlich schnell fahren können. Schnelligkeit ist zweitrangig.

Die tatsächlich schnellsten Skifahrer neigen dazu, früher oder später einen bösen Unfall zu haben, der ihre Karriere oder schlimmstenfalls ihr Leben beendet. Ein einfaches Zahlenbeispiel illustriert den Vorrang des Überlebens: Nehmen wir an, ein besonders risikolustiger und daher schneller Skifahrer hat eine Chance von 20%, ein Rennen zu gewinnen. Dafür riskiert er auch in 20% der Rennen einen schlimmen Unfall. Sein vorsichtigerer Konkurrent hat eine Gewinnchance von 10%. Doch sein Unfallrisiko beträgt nur 1%.

Auf welchen Fahrer würden Sie bei einem Rennen setzen? Natürlich auf den ersten. Doch wie sieht es bei einer Weltcup-Saison über 10 Rennen aus? Die Chancen, dass der risikolustige Fahrer die Saison beendet, stehen ziemlich schlecht, bei nur 11% (0.8^10). Der vorsichtigere Konkurrent dagegen wird höchstwahrscheinlich nicht nur die Saison beenden, sondern auch mehr Rennen gewinnen.

Der Erwartungswert des schnelleren Fahrers für die Saison beträgt nämlich nur 0.7 Siege und keineswegs zwei Siege, wie man auf den ersten Blick auf Grund der Siegeschance von 20% vermuten könnte. Er bleibt nicht lange genug im Wettbewerb, um seine Schnelligkeit wirklich ausspielen zu können. Auf Grund dieses Survivor-Bias sehen wir im Skiweltcup auch nicht die schnellsten Fahrer der Welt – sondern die Schnellsten der Überlebenden.

«Ob im Skisport oder dem Leben generell haben nicht die Besten Erfolg. Es sind die Besten von denen, die überleben», bringt es Luca Dellanna auf den Punkt. Der italienische Buchautor hat mit «Ergodicity» ein lesenswertes kleines Buch zum Thema geschrieben aus dem auch das Beispiel mit den Skifahrern stammt.

Die Regel lässt sich verallgemeinern: Nicht der am härtesten arbeitende Mitarbeiter wird CEO, sondern ein hart arbeitender, der keinen Burnout erleidet. Die langfristigen Performance-Ranglisten werden von Fonds angeführt, welche immer wieder gute Renditen erzielen, ohne ihr Anlagevehikel in einem schlechten Jahr völlig gegen die Wand zu fahren.

Keine Fonds von Jahresranglisten kaufen

Aus dieser langfristigen Optik macht es auch überhaupt keinen Sinn, Fonds zu kaufen, die in einer der üblichen Vorjahresranglisten ganz oben stehen: Nicht nur stehen die Chancen erwiesenermassen schlecht, dass ein Fonds zwei Superjahre in Serie abliefert. Sondern die Gefahr ist auch gross, dass sein ausserordentliches Ergebnis unter Inkaufnahme von viel Risiko erreicht wurde. Im Normalfall bedeutet dies eine einseitige Fokussierung auf einen Sektor, ein paar wenige Titel oder generell hochriskante Aktien. Ein jäher Absturz ist somit fast immer unvermeidlich.

Ein aktuelles Beispiel ist der tiefe Fall des ARK Innovation ETF von Cathie Wood. Nach einer phänomenalen Performance von 153% im Jahr 2020 noch als neuer Superstar gefeiert, folgten für die Technologie-Prophetin Wood zwei miserable Jahre und ein Gesamtabsturz von 80%. Auch nach einer Erholung in diesem Jahr notiert der ARK weiterhin unter seinem Stand vor dem sagenhaften Jahr 2020.

Denn um einen Fall von 80% wettzumachen, wäre ein Anstieg um 400% nötig. Anlageergebnisse werden multiplikativ verknüpft, eine hohe Schwankungsbreite ist deshalb schlecht für den langfristigen Zinseszinseffekt.

Das mediale Hochjubeln von Individuen, die alles auf eine Karte gesetzt haben, ist ein generelles gesellschaftliches Problem: Star-Unternehmer wie Elon Musk oder Jeff Bezos haben alles für ihr Unternehmen riskiert und geopfert – doch was ist mit dem durchschnittlichen Firmengründer? Viele gehen Pleite oder erleiden ein Burnout, besonders die, welche alles riskieren.

Nuller vermeiden ist die Kunst

Auch an der Börse wird der durchschnittliche Investor, der beim Investieren alles auf eine einzige Aktie setzt, langfristig ein schlechteres Ergebnis haben als der Investor, der alles auf den Durchschnitt setzt, zum Beispiel mit Indexprodukten. Denn während ein Börsenindex konstruktionsgemäss nicht auf Null fallen kann, besteht bei einer einzigen Aktie immer ein Risiko eines Totalverlusts. Kommt eine Null in die multiplikative Kette von Anlagerenditen, ist das Ergebnis auch Null.

In der Statistik spricht man bei dieser Problematik davon, dass die Ergodizität nicht gegeben ist: Das mittlere Ergebnis von vielen parallel spielenden Spielern entspricht nicht dem mittleren Ergebnis eines Einzelnen über die Zeit.

Ein prägnantes Beispiel dafür wäre ein gelangweilter russischer Oligarch, der ihnen 3 Millionen Dollar dafür bietet, russisches Roulette zu spielen. Der durchschnittliche Gewinn von 100 Spielern, die einmal den Revolver abdrücken, entspricht nicht dem Gewinn, den ein einzelner Spieler im Durchschnitt nach Hause trägt, der 100 Mal abdrückt. Im ersten Fall beträgt der Erwartungswert im Schnitt 2.5 Millionen, im zweiten Fall endet die Serie für den Einzelnen höchstwahrscheinlich weit vor dem 100. Mal mit einer Kugel im Kopf.

Jegliche Form von «Game-over» oder Irreversibilität führt dazu, dass der Erwartungswert zukünftiger Gewinne kleiner ausfällt als bei einem Spiel, dass sich beliebig in die Zukunft fortsetzen lässt. Bei einem unendlichen Spiel wird ein Spieler früher oder später den durchschnittlichen Erwartungswert erreichen, im ersten Fall jedoch nicht

Unser Motto: "Winning by not losing"

Für den Investor ergibt sich daraus das oberste Gebot, den Ruin zu vermeiden und im Spiel zu bleiben. Die Rendite zu maximieren, ist sekundär. Unsere Anlagemotto «Winning by not Losing» begründet darauf. Wir versuchen in erster Linie keine Aktien zu kaufen, mit denen man in kurzer Zeit sehr viel Geld verlieren kann:

  • Keine Startups und IPOs
  • Keine hochverschuldeten zyklische Firmen
  • Keine sehr teuren Aktien mit hohen Erwartungen
  • Keine Firmen ohne Cashflows

Der Index soll also auf lange Sicht dadurch geschlagen werden, dass wir die potenziell ruinösesten Titel am Markt vermeiden und nicht etwa, indem wir nach den grössten Gewinneraktien Ausschau halten. Wir sind die bekennenden Schisshasen, die primär die Saison überstehen wollen und überlassen die knochenbrecherischen Abfahrtsläufe anderen Investoren.

Als generelle Regel lässt sich sagen, dass die potenzielle kurzfristige Performance maximiert werden kann auf Kosten der langfristigen Nachhaltigkeit, ob bei Skirennen, Verkaufszahlen eines Unternehmens oder im Fondsmanagement. Daraus ergeben sich gravierende Interessenskonflikte. Ob Ergodizität und Überleben eine wichtige Rolle spielen, hängt nämlich davon ab, auf welcher Seite des Spiels man steht.

Auf welcher Seite man steht, ist entscheidend

Die Teilnahme am oben erwähnten russischen Roulette macht für einen einzelnen Spieler keinen Sinn. Betreibt man jedoch ein Unternehmen, in dem 100 andere Spieler für einen abdrücken, verschiebt sich die Perspektive und das Spiel wird attraktiv. In der Geschäftswelt wären etwa arbeitsintensive Branchen wie Beratung oder Investment Banking zu nennen: Die nehmen durchaus in Kauf, ein nicht unwesentlicher Teil ihrer jungen Mitarbeiter ein Burnout erleiden. Sie können durch neue Spieler ersetzt werden – die Frage ist, ob sich das Risiko für die jungen Mitarbeiter lohnt.

Ein Fondshaus kann dieselbe Strategie fahren: Man betreibt Hunderte Fonds und eröffnet jedes Jahr neue Vehikel. Viele davon setzten einzig auf heisse Themen der Stunde mit dem Ziel, kurzfristig möglichst gut zu performen und viele Kundengelder einzusammeln. Geht es schief, haben den Schaden die anderen.

Vor diesem Hintergrund sollten Anleger sehr skeptisch sein bei Fondsanbietern mit einer breiten Palette von Produkten – vor allem, wenn sich darunter nicht nur sehr gute, sondern auch viele sehr schlechte Fonds finden. Das ist ein klares Zeichen, dass teils sehr riskante oder nur auf Marketing ausgerichtete Strategien gefahren werden. Der Anleger ist dann nur noch eine Nummer und das potenzielle Opfer im Spiel.

Artikel teilen


Konto eröffnen