30.11.2022

Stolz und Vorurteil

Aktien und Anleihen aus Schwellenländern haben bei vielen Investoren einen schweren Stand. Doch es sind eher falsche Vorurteile als Fakten, welche die skeptische Ablehnungshaltung begründen. Im Gegenteil erscheint es eher als gefährlich, keine signifikanten Anlagen in Emerging Markets zu haben.

Peter Frech

vonPeter Frech

Fondsmanager

Als die Inflationsrate im Februar 2021 erstmals nach dem Corona-Crash wieder die Marke von 5% durchbrach, reagierte die Notenbank entschlossen und erhöhte die Zinsen um 0.75%. Die Rede ist natürlich von der brasilianischen Zentralbank, nicht den Schnarchnasen des amerikanischen Fed oder der EZB, welche das ganze Jahr 2021 noch mit Träumereien über «transitorische Inflation» verbrachten.

Erst mehr als ein Jahr später im März 2022 begann die US-Notenbank mit dem ersten Zinsschritt auf 0.5%, als die Teuerung bereits 7.9% erreicht hatte. Die EZB verharrte noch länger im Tiefschlaf und erhöhte die Zinsen erstmals im Juli dieses Jahres aus dem negativen Bereich auf 0% – bei einer Inflationsrate von damals schon 8.6%.

Die Notenbanker der Industrieländer hatten offensichtlich nach zwei Jahrzehnten mit sehr tiefer Inflation ihre Fähigkeiten oder gar den Willen zur Inflationsbekämpfung verloren und müssen sie nun «on the job» neu erlernen. Die Notenbanker der Emerging Markets dagegen konnten sich diesen Luxus nicht erlauben. Brasilien kam nie in den zweifelhaften Genuss von Nullzinsen oder gar Negativzinsen – doch entsprechend gut können Staat und Wirtschaft nun mit hohen Zinsen umgehen, man kennt es ja nicht anders.

Aktuell liegt die Teuerung im Amazonasstaat bei 7.2% mit sinkender Tendenz und damit deutlich unter der Inflationsrate in den USA oder der Eurozone. Auch Länder wie Mexiko oder Indonesien haben die Inflation viel besser im Griff als die grossen Industriestaaten (siehe Grafik).

Die Inflationsraten in Schwellenländern sind aktuell tiefer und die Leitzinsen höher als in den Industrieländern. (Quelle: Bloomberg)

Wegen generell geringerer Verschuldungen von Staat und Haushalten dürften die Länder des Südens auch weniger zukünftige Probleme mit den Zinsen bekommen (siehe Grafik unten). In den meisten Industriestaaten droht dagegen eine gefährliche Spirale aus überbordenden Staatsschulden, Fiskaldefiziten und Inflation – oder ein deflationärer Crash mit Bankenpleiten.

Die Staatsschulden im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt BIP sind in Schwellenländern generell tiefer als in den Industriestaaten. (Quelle: Bloomberg)

Doch warum ist es trotz eklatant besserer Fundamentaldaten der Emerging Markets so, dass die meisten Anleger kaum an Investments in diese Länder denken und wir als Fondsmanager ständig mit kritischen Fragen zu unseren Aktien in Brasilien, Mexiko oder Indonesien konfrontiert werden?

Der Home Bias spielt eine grosse Rolle, also die allzu menschliche Tendenz, dass die Vertrautheit mit etwas ein Gefühl der Sicherheit gibt. Der Anleger glaubt, die politischen Risiken oder die Führung eines Unternehmens im eigenen Land besser einschätzen zu können als in Ländern auf der anderen Seite des Globus. Von diesen hört man in den Nachrichten ohnehin meist nur die schlechten News, was die falschen Vorurteile nährt.

Das Kapitol wurde allerdings kürzlich in Washington gestürmt und nicht in Brasilia. Und der grösste Finanzbetrug der letzten Jahre fand mit Wirecard in Deutschland statt. Ganz zu schweigen von den Pleiten und Betrügereien, die aus dem irren Krypto- und Startup-Boom noch ans Tageslicht kommen dürften.

Umfragen zu den Fakten entlarven die Vorurteile

Der schwedische Arzt und Gesundheitsprofessor Hans Rosling hat in seinem lesenswerten Buch «Factfulness» eindrücklich dokumentiert, wie falsch unser Weltbild im Bezug auf Schwellen- und Entwicklungsländer tatsächlich ist. Er hatte sich einen Spass daraus gemacht, verschiedensten Gruppen von Experten oder Zuhörern Fragen zu stellen wie: «Was ist die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt heute weltweit?» Zur Auswahl stehen 50 Jahre, 60 Jahre und 70 Jahre.

Die richtige Antwortet lautet 70 Jahre. Allein durch Zufall würde ein Schimpanse zu 33% die richtige Antwort aus den Dreien erwischen. Doch das Weltbild der von Rosling befragten Menschen ist systematisch falsch und zu negativ, vor allem in höhergebildeten Kreisen. In Schweden wussten generell nur 29% der Befragten die korrekte Antwort. An Roslings Karolinska-Institut tippten sogar nur 18% der Professoren richtig. Die sollten eigentlich etwas über Gesundheit wissen, vergeben sie doch immerhin den Nobelpreis für Medizin… Das negativste Weltbild hatten übrigens norwegische Lehrer, nur 7% wählten die korrekte Antwort «70 Jahre». Am häufigsten wurde die Antwort «60 Jahre» gewählt. Die wäre durchaus auch mal richtig gewesen – zuletzt allerdings im Jahr 1973.

Das Muster der negativen Vorurteile gegenüber den Entwicklungs- und Schwellenländern zieht sich durch alle von Roslings Befragungen durch. Ob Kindersterblichkeit, Impf- und Schulabgangsquoten oder den Anteil von Menschen, die in extremer Armut leben müssen: Menschen aus nördlichen Industriestaaten haben eine systematisch negativ verzerrte Sicht auf die südliche Welt. Wieso sollte es bei Investoren anders sein?

Die Vorurteile mischen sich schnell einmal mit Stolz und Überheblichkeit: Disziplin im Staatshaushalt und bei der Geldpolitik sind natürlich wichtig und werden von Institutionen der reichen Länder wie dem IWF seit Jahrzehnten eisern gepredigt – aber in Europa nimmt man es längst nicht mehr so genau mit den Fiskaldefiziten oder trickst mit «Sonderhaushalten». Solche Schummeleien würde man den Brasilianern kaum durchgehen lassen.

Paradox des Vertrauens

Hier kommt das Paradox des Vertrauens ins Spiel: Wer geringes Ansehen geniesst, vielleicht etwas schmuddelig daherkommt oder in der Vergangenheit negativ aufgefallen ist, muss sich Vertrauen teuer erkaufen, indem er etwa für einen Kredit hohe Zinsen bezahlen muss. Wer dagegen hohes Ansehen geniesst, mit blütenreiner Weste auftritt und in der Vergangenheit vielleicht vieles richtig gemacht hat, der kommt einfacher zu Vertrauen oder Krediten.

Die Gefahr, eine grosse Enttäuschung oder einen finanziellen Verlust zu erleiden, ist aber natürlich oft grösser bei Leuten oder Kreditnehmern, denen man von Anfang an viel Vertrauen entgegengebracht hat. Dem Penner auf der Strasse werden Sie kaum ihr halbes Vermögen anvertrauen, dem adretten Finanzberater mit Einstecktuch und Doktortitel vielleicht aber schon.

An den Finanzmärkten äussert sich dies darin, dass Aktien und Anleihen von Schwellenländern derzeit mit hohen Free-Cashflow-Renditen und Zinsen daherkommen, weil das Vertrauen in sie geringer ist – ob gerechtfertigt oder nicht. Das Risiko eines grossen Verlustes wird aber durch die tiefe Bewertung auch geringer. Umgekehrt müssen Anleger zum Beispiel in europäischen oder amerikanischen Anleihen derzeit gerade auf die harte Tour erfahren, dass steigende Zinsen umso mehr schmerzen, umso geringer der ursprünglich verlangte Zinssatz war. Der relative Vertrauensverlust in den Anleihen der Regierungen der Industriestaaten ist derzeit viel grösser. Dasselbe lässt sich auch über hochbewertete Technologiewerte sagen. Je höher das ursprüngliche Vertrauen, desto härter ist potenziell die Enttäuschung.

Wobei das Vertrauen in Emerging Markets auch steigen und schwinden kann: Ein Rückblick auf die langfristige Entwicklung des MSCI Emerging Markets Index im Vergleich zum MSCI World zeigt dies deutlich (siehe Grafik unten). 

Die Grafik zeigt die Kursentwicklung des MSCI Emerging Markets Index im Verhältnis zum MSCI World. Seit 2010 haben die Emerging Markets massiv underperformt. (Quelle: www.longtermtrends.net)

Derzeit befindet sich das Anlegervertrauen in Emerging Markets auf einem Tiefststand. Die Investoren kauften mehr als ein Jahrzehnt lang lieber Aktien aus Industrieländern, allen voran US-Technologietitel. Doch ähnlich wie 2001 kann sich das Blatt wieder wenden. Damals folgte auf das Platzen der Internet-Blase eine Dekade der Outperformance für Wertpapiere aus Schwellenländern, welche 2010 in einer breiten Manie für BRIC-Titel aus Brasilien, Russland, Indien und China gipfelte.

Aus dieser Optik erscheint uns der aktuelle Anteil von Emerging Markets im Quantex Global Value mit 20% eher zu tief als zu hoch. Wir tätigen keine Top-Down-Investments, doch es fällt auf, dass seit geraumer Zeit viele Aktien aus Emerging Markets in unseren Screenings auftauchen. Oft ist die geringe Handelsliquidität das einzige Problem.

Mit den Titeln aus Schwellenländern, die wir nach unseren strengen Kriterien bezüglich Free Cashflow und hoher Kapitalrückgabe an die Aktionäre auswählen, schlafen wir jedoch gut. Das Risiko von potenziell gravierenden Verlusten über Nacht haben wir mit dem Ausschluss von russischen und chinesischen Aktien reduziert (siehe "Die China-Frage").

Angesichts des riesigen Vertrauensvorsprungs, den die Aktien und Anleihen der Industriestaaten derzeit immer noch geniessen, erscheint uns das Risiko einer herben Enttäuschung auf der Nordhalbkugel wesentlich grösser als in den Emerging Markets. 

 

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