26.11.2021

Das informelle Öl-Kartell

Die Erkenntnis des Herbstes 2021: Ohne fossile Brennstoffe geht es noch lange nicht. Das totgesagte Ölgeschäft ist der beste Sektor des Jahres. Die Energiewende wird länger dauern und viel teurer als angepriesen. Der Druck der ESG-Aktivisten und der Politik dürfte die laufende Öl-Hausse sogar verlängern.

Peter Frech

vonPeter Frech

Fondsmanager

Der Präsident der Vereinigten Staaten bittet die Saudis und Russen am Rande des Weltklimagipfels um eine Steigerung der Ölförderung – mehr Satire geht nicht. Joe Biden drohte der Opec+ sogar mit Konsequenzen, falls sie nicht umgehend die Förderquoten erhöhten. Gleichzeitig predigte die Biden-Administration in Glasgow vollmundig die Energiewende. Wie die Financial Times berichtet, hat das Weisse Haus kürzlich einige US-Produzenten direkt kontaktiert und danach gefragt, wie schnell sie die Förderung erhöhen können – dieselbe Biden-Administration, welche zuvor Genehmigungen für Pipelines und neue Bohrungen auf staatlichem Land verweigerte.

Natürlich steigt mit dem Preis an der Zapfsäule der Druck auf die Politiker, etwas dagegen zu tun. In Deutschland wurden bereits Rabatte auf die Mineralölsteuer ins Spiel gebracht. Frankreich und Italien verteilen Geld an die ärmeren Haushalte, damit sie sich die Gasrechnungen noch leisten können. Vor dem Hintergrund der stark steigenden Inflation sind die Preisanstiege bei Öl und Gas doppelt ungemütlich.

Mit dem Ölausstieg läuft es in etwa wie mit dem Atomausstieg: Er wird vollmundig angekündigt, die Produzenten werden unter Druck gesetzt – und dann merkt man, dass man doch noch nicht ohne leben kann.

Die Rechnung wurde ganz ohne den Konsumenten gemacht. Die weltweite Ölnachfrage stieg gemäss BP bereits wieder auf das Vorkrisen-Niveau von über 100 Millionen Fass am Tag. Dabei sind weder alle Länder noch der Flugverkehr vollständig geöffnet.

Permanent höhere Ölpreise und damit der Anreiz, weniger zu verbrauchen, wären eigentlich ein Teil der Lösung des Klimaproblems. Der grosse Ölpreis-Schock von 1973/74 führte zu zahlreichen Effizienzsteigerungen und einem bis heute anhaltenden Nachfragerückgang in Industrieländern wie Deutschland, Japan oder der Schweiz.

Aber die Politiker haben nicht das Rückgrat, dem Wähler zu sagen, dass mit der Energiewende alles teurer wird und es letztlich auf Konsumverzicht hinausläuft. Also werden Elektroautos subventioniert und Druck auf die Ölkonzerne – immer ein dankbarer Bösewicht – gemacht, weniger Öl zu pumpen. Und dann werden die Saudis und Russen hinten rum angefleht, mehr Öl und Gas zu liefern, wenigstens noch bis zur nächsten Wahl.

Ungewohnte Förderdisziplin dank ESG

Doch Joe Biden und die ESG-Aktivisten haben etwas erreicht, was bis jetzt niemand geschafft hat: Den Ölfirmen mehr Disziplin bei den Investitionen beizubringen. In vergangenen Zyklen verhielten sich die Branchenvertreter bei steigenden Ölpreisen etwa so diszipliniert wie Dreijährige bei den Geschenken unter dem Weihnachtsbaum.

In diesem Zyklus bei Öl über 80 Dollar je Fass aber verharren die Kapitalausgaben auf Tiefstständen: Weniger als 400 Milliarden Dollar werden dieses Jahr für die Erschliessung neuer Öl- und Gasfelder ausgegeben. Auf dem Top des Shale-Booms im Jahr 2014 waren es satte 1000 Milliarden Dollar. Gemäss den Analystenschätzungen werden die Investitionen auch die nächsten Jahre unter 400 Milliarden bleiben.

Damit investiert die Ölindustrie derzeit weniger, als sie jährlich auf alten Investitionen abschreibt. Ein Zustand, der bisher nur einmal in den letzten 70 Jahren erreicht wurde, während des grossen Öl-Crashs Mitte der 1980er Jahre (siehe Grafik).

Die Grafik zeigt die Kapitalinvestitionen aller Öl- und Gasaktien im Verhältnis zu den Abschreibungen seit 1952. Momentan wird so wenig investiert wie niemals zuvor. (Quelle: Empirical Research)

Die Ausgabendisziplin führt in Kombination mit den hohen Ölpreisen zu einer Flut an Free Cashflow bei den Produzenten. Gemäss der Datenbank von Empirical Research weist der Sektor derzeit die höchsten Free-Cashflow-Margen seiner Geschichte bis zurück ins Jahr 1952 auf. 

Investitionen unter der Abschreibungsrate implizieren zudem eine weltweit stark fallende Ölproduktion in den nächsten Jahren. Empirical Research hat mit Schätzungen der International Energy Agency (IEA) ausgerechnet, dass das heutige Investitionsniveau der Ölfirmen dem Weg zu Netto-Null beim Kohlendioxid-Ausstoss im Jahr 2050 entspricht. Ein solches Netto-Null-Szenario würde jedoch neben dem fehlenden politischen Rückhalt – man braucht nur Joe Biden zu fragen – jährliche globale Cleantech-Investitionen von 3500 Milliarden bedingen. Das ist mehr als die gesamten Kapitalausgaben aller Unternehmen der Welt zusammen. Damit wird auch die wirtschaftliche Unmöglichkeit des Netto-Null-Szenarios offensichtlich – ausser man ist plötzlich bereit zum radikalen Konsumverzicht.

Unter dem realistischeren Szenario einer schrittweisen Reduktion des Kohlendioxid-Ausstosses bis 2050, dem so genannten «Stated Policy Scenario» bereits geplanter Schritte, müsste die Ölindustrie jedoch jährlich immer noch doppelt so viel investieren, wie sie es heute tut. Zukünftige Knappheit bei Öl und Gas ist damit praktisch für Jahre garantiert.

Ob auf Druck der ESG-Aktivisten oder aus Frust über den letzten fehlgeschlagenen Investitionsboom, die Ölfirmen nutzen den momentanen Geldsegen lieber für Dividenden, Aktienrückkäufe und Schuldenrückzahlungen. Das dürfte nicht immer so bleiben, der Anreiz neuer Investitionen in die Förderung ist einfach zu gross. Doch momentan können wir den sprudelnden Free Cashflow zu erstaunlich tiefen Bewertungen kaufen – dem Hype ums umweltfreundliche Investieren sei Dank!

Das neue Opec+ESG Kartell

Aus dem Trend ist unbeabsichtigt eine Art neues Öl-Kartell entstanden: Das Opec-Kartell hatte seine Blütezeit in den 1970er Jahren, als die Vereinigung mehrheitlich arabischer Produzentenländer den Ölpreis in ungeahnte Höhen trieb. Als Reaktion darauf erhöhten westliche Länder ihre eigene Förderung massiv, zum Beispiel in der damals neu erschlossenen Nordsee. Die Macht des Kartells wurde gebrochen und die Opec wurde mehr und mehr zu einem bedeutungslosen Papiertiger. Der Niedergang beschleunigte sich mit der Fracking-Revolution in den USA, welche die Ölförderung Amerikas mehr als verdoppelte. Die USA wurden von Ölimporten so wenig abhängig wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Der Zusammenschluss zur Opec+ mit Russland erfolgte als Reaktion auf die schlechte Marktsituation.

Mit dem Druck von ESG-getriebenen Investoren und Aktivisten auf die westlichen Ölfirmen sind diese nun aber informell Teil des neuen globalen Öl-Kartells geworden. Auch wenn es keine Quotenvorgaben der Opec gibt: So lange Shell, BP, Exxon und Konsorten sich kaum noch trauen, mehr Geld für neue Förderung auszugeben, erfüllt die neue Opec++ oder Opec+ESG ihren Zweck.

Für den Durchschnittsverdiener und die meisten Wähler in westlichen Staaten geht damit die Rechnung aber nicht auf. Energiekosten machen einen grösseren Teil der Ausgaben ärmerer Haushalte aus als der Reichen. Gleichzeitig stellen sich die Notenbanken in Sachen Zinserhöhungen und Inflationsbekämpfung weiterhin taub. Tiefe Zinsen treiben vornehmlich Vermögenswerte wie Immobilien und Aktien in die Höhe. Energieinflation für die Armen und Asset Inflation für die Reichen scheint jedoch eine Formel, mit der sich kaum noch Wahlen gewinnen lassen. Das neue informelle Öl-Kartell birgt politische Sprengkraft.

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