Der Verlust der Zeit

Peter Frech

Eine wahre Schwemme an Neuemissionen bricht nun im Spätzyklus über den Aktienmarkt her. Die allermeisten sind auf absehbare Zeit unprofitabel und werden mit luftigen Bewertungen gehandelt. Doch den Anlegern ist Rendite auf dem Kapital in der Ära der Minuszinsen generell egal: Hauptsache, es gibt eine schöne Zukunftsfantasie, an die man glauben kann. Zeit ist in unserer schnelllebigen Zeit paradoxerweise wertlos geworden.

Wer das Geld hat, hat die Macht – hiess es früher immer. Heute hat derjenige mit dem Geld oft ein Problem. Zumindest, wenn es ums Investieren geht. Es fängt bei den Minuszinsen an, die es auf dem Sparkonto und auf Tausenden Milliarden von Anleihen gibt. Die Notenbanken manipulieren natürlich diesen Markt. Doch sie machen nicht allein den Preis. Viele Anleger zahlen offenbar auch bereitwillig für das Privileg, für zehn Jahre und mehr auf ihr Geld zu verzichten.

Eine der Grundannahmen der Ökonomie – ein Franken heute ist wertvoller als ein Franken in einem Jahr – ist damit in weiten Teilen des Marktes nicht mehr gültig.

Der Verlust des Zeitwerts zeigt sich auch in der mehr als zehn Jahre anhaltenden Underperformance des Value-Stils gegenüber Wachstumsaktien. Value bedeutet, dass man lieber eine Aktie mit hoher Gewinn- oder Free-Cashflow-Rendite kauft als eine mit niedriger Rendite. Dies bedeutet letztlich, dass man schneller sein investiertes Kapital zurückerhält – und dass die ferne Zukunft der Unternehmensgewinne weniger wichtig ist als die Gegenwart.

Natürlich versprechen alle Wachstumsunternehmen traditionellerweise, statt heute einen Franken in der Zukunft zwei oder mehr Franken Gewinn abzuwerfen. Es widerspricht nicht den ökonomischen Grundsätzen, dass Anleger bereit sind, schon heute einen hohen Preis für diese Zukunftsversprechungen zu bezahlen. In der Praxis unterliegen die Anleger aber in einer Wachstumsaktien-Blase gerne dem Trugschluss der Komposition: Während einzelne Firmen natürlich lange Zeit viel stärker als der Marktschnitt wachsen können, ist es unmöglich, dass dies der Grossteil des Marktes tut: Nicht jeder kann überdurchschnittlich sein.

Ein konkretes Beispiel für diesen Trugschluss bieten die stark wachsenden Internet-Werbegiganten Facebook und Google. Zusammen kontrollieren sie bereits mehr als einen Viertel des globalen Werbemarkts. Mehr als vervierfachen können sie ihre Umsätze folglich nicht mehr – unter der Annahme, dass für traditionelle TV- und Print-Werbung sowie all die hoffnungsvollen Internet-Konkurrenten wie Amazon oder Snap rein gar nichts mehr übrigbleibt.

Die Herde der Einhörner galoppiert an die Börse

Auf den Gipfel getrieben wird der aktuelle Verlust jeglichen Zeitwerts mit der laufenden Welle von Aktien-Neuemissionen (IPOs). Der Taxi-Service Lyft ging gerade mit einer 23-Milliarden-Bewertung an die Börse. Konkurrent Uber will demnächst 10 Milliarden einsammeln und total über 100 Milliarden wert sein. In der Warteschlange sind weitere prominente «Unicorns» oder Einhörner, also Startups mit über einer Milliarde Bewertung, wie Pinterest, Slack oder Airbnb.

Ein heisser Markt für IPOs ist am Ende eines langen Booms nichts Ungewöhnliches, sondern geradezu typisch. Schliesslich gilt es von der guten Stimmung und vollen Taschen der Börsianer zu profitieren. Es überrascht deshalb wenig, dass Aktien von IPOs im historischen Schnitt ein miserables Investment sind.

Doch selten waren die Neuemissionen so unprofitabel wie heute: Wie Professor Jay Ritter zeigt, schrieben 1980 ein Viertel aller neuen Publikumsgesellschaften zum Zeitpunkt des Börsengangs Verluste. Heute sind es 80% (siehe Grafik unten). Gleichzeitig kommen die Neuemissionen zu einem viel späteren Zeitpunkt und mit viel höheren Kapitalisierungen auf den Markt als früher üblich.

% of IPOs with negative earnings
Die Grafik zeigt den Prozentsatz aller IPOs ohne Gewinne. Der Prozentsatz ist am höchsten in Boomphasen wie 1999/2000 oder jetzt wieder. (Quelle: Jay Ritter/topdowncharts.com)

Weil das Geld der Venture-Kapitalisten so locker sass, konnten es sich die Startups leisten, länger privat zu bleiben und die Regulationen und Transparenz der öffentlichen Märkte zu meiden. Das Geld sass wirklich unglaublich locker. Wie Empirical Research vorrechnet, übertrafen die Venture-Kapital-Investitionen in den letzten Jahren sogar den legendären Internet-Boom der 1990er Jahre. Gut 400 Milliarden Dollar wurden am Privatmarkt allein 2018 in den Tech-Sektor investiert – das ist mehr als die reinvestierten Gewinne der börsennotierten Tech-Aktien inklusive der Giganten wie Microsoft oder Amazon.

Das Privileg, in verlustreiche Firmen investieren zu dürfen

Das Geld ist im Überfluss vorhanden, gute Startup-Ideen mit der gesuchten «Skalierbarkeit» dagegen sind rar. So entstand ein zuweilen absurder Schönheitswettbewerb um das Privileg, in verlustbringende neue Firmen investieren zu dürfen. Normalerweise müssen ja die Startups gegeneinander um die Gunst der Investoren buhlen.

Wie sehr sich das Kräfteverhältnis verschoben hat, zeigt auch die Tatsache, dass mittlerweile praktisch alle Börsenneulinge aus dem Tech-Sektor mit zwei Klassen von Aktien an den Markt kommen. Damit soll die Stimmkontrolle der «visionären» Gründer des Startups erhalten bleiben. Sprich, nach dem Börsengang darf jetzt zwar jeder investieren, aber mitzureden haben die Kapitalgeber nichts. Damit können die Gründer noch auf ewig alle Forderungen der Aktionäre nach Profiten oder gar Dividenden ignorieren. Und den Publikumsaktionären scheint dies mehr als Recht zu sein. Anders lässt sich der grosse Andrang um die Neuemissionen nicht erklären.

Es zeigt sich damit einmal mehr, wie wertlos Zeit und Geld momentan geworden sind. Statt Cashflow, Zins oder Dividenden will man lieber ein Stück einer schönen Wachstumsgeschichte kaufen. Ob das Geld dann in zehn oder dreissig Jahren erst zurückfliesst, ist völlig egal. Die absurde Bitcoin-Blase im Jahr 2017 passte diesbezüglich bestens in die Zeit: Kryptowährungen sind rein virtuelle Konstrukte ohne jede Aussicht auf konkreten Cashflow.

Naive Gutgläubigkeit und magisches Denken greifen typischerweise am Ende eines langen Booms um sich (vgl. SpectraNews vom Mai 2018). Nach einem Crash macht sich dagegen Ernüchterung breit. Die Anleger sind skeptisch und wollen konkrete Resultate oder Bares sehen.

Je gutgläubiger und unvorsichtiger andere Investoren heute agieren, desto mehr fühlen wir uns zu mehr Skepsis und Vorsicht genötigt. Wir bleiben unseren altmodischen Value-Grundsätzen treu und glauben weiterhin an den Grundsatz, dass ein Franken heute mehr wert ist als einer in ferner Zukunft. Wir investieren entsprechend, und wollen lieber heute als morgen Bares sehen.

Wer dagegen mit dem Zeitgeist mitgeht, läuft aus unserer Sicht Gefahr, mehr als nur Zeit zu verlieren. Unter Umständen wird er sehr lange warten müssen, bis er sein Geld zurückkriegt – wenn überhaupt je. Das mag im Moment vielen Investoren egal sein. Wir bezweifeln aber, dass dies noch lange so bleiben wird.

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