Die falsche Medizin

Peter Frech

Seit mehr als zwei Jahrzehnten reagieren die Notenbanken auf jede noch so kleine Krise mit Zinssenkungen. Dies mag der Wirtschaft in manchen Fällen geholfen haben. Doch gleichzeitig wurde der Schuldenberg immer höher und das System immer fragiler. Die jahrelange Überdosis an billigem Geld hat dem Patienten mehr geschadet als genützt. Neue Lösungsansätze drängen sich auf.

Als die US-Notenbank Fed am 3. März notfallmässig die Zinsen um 0.5% senkte, reagierten die Aktienmärkte nur für ein paar Minuten positiv darauf. Schon wenig später verpuffte die Massnahme wirkungslos und die Börsen setzten ihren Sinkflug fort. Zu spät, zu wenig, war das Verdikt des US-Anleihenmarkts, der nun eindeutig eine Rezession und weitere massive Zinssenkungen einpreist.

Für jeden offensichtlich wurde in Zeiten des Coronavirus die falsche Medizin verabreicht. Eine Woche später fielen die Aktienmärkte so steil wie seit 2008 nicht mehr auf einen neuen Jahrestiefstand. Was nützen etwas tiefere Zinsen, wenn den Hotels und Reiseveranstaltern, den Airlines und Restaurants schlicht die Umsätze wegbrechen? Die Kreditkosten waren ohnehin seit Jahren tief. Und wie die minimalen Risikoaufschläge zeigen, war es selbst für schlechte Schuldner lange Zeit allzu leicht, an frische Kredite zu kommen.

Die neue Krise mit billigerem Geld eindämmen zu wollen, erscheint geradezu aussichtslos. Die meisten Notenbanken – allen voran die EZB – hatten ja gar nie aufgehört, die letzte Krise mit tiefen oder sogar negativen Zinsen zu bekämpfen. Der europäische Patient kam nie von seiner Morphiumkur weg.

Die Weltwirtschaft ist längst mit billigem Geld vollgepumpt und dürfte auf höhere Dosen der immer gleichen Medizin kaum noch reagieren. Im Gegenteil: Zu tiefe oder gar negative Zinsen haben sich eher als Gift denn als Heilmittel erwiesen.

Der stärkste Kurseinbruch seit der Finanzkrise 2008

So erklärt sich, dass europäische und amerikanische Bankaktien am 9. März ihren stärksten Kurseinbruch seit der globalen Finanzkrise von 2008 erlitten. Offensichtlich nehmen die Investoren die Notenbanker mit ihrem Allheilmittel der Zinssenkungen nur noch als gefährliche Quacksalber wahr.

Der Rückgang der Zinsen auf die Nulllinie entfaltet seine zerstörerische Wirkung, indem er die Margen der Banken schmälert, damit ihr Eigenkapital schwächt und ihnen jeglichen Anreiz nimmt, weitere Kredite zu vergeben. Beispiele für klinische tote Banken dank Nullzins-Überdosis finden sich in der Eurozone und Japan haufenweise.

Das grössere Problem als das serbelnde Bankensystem ist jedoch die gewaltige Schuldenblase, welche dank der anhaltenden Tiefzinspolitik entstanden ist. Die globale Verschuldung erreichte 2019 ein Allzeithoch von 322% der Weltwirtschaftsleistung.

Globale Verschuldung in 1000 Milliarden Dollar
Die Grafik zeigt den Anstieg der weltweiten Verschuldung seit 1995. (Quelle: Bloomberg)

Am meisten neue Schulden gemacht haben die Unternehmen (siehe Grafik oben). Ihre Verschuldung hat sich in den letzten zehn Jahren glatt verdoppelt. In vielen Fällen wurde das Leverage dabei allein erhöht, um mehr Geld über Dividenden und Aktienrückkäufe an die Kapitalgeber ausschütten zu können. Investitionen und Produktivitätswachstum blieben tief.

Die durchschnittliche Kreditqualität der meisten Unternehmensschuldner war schon miserabel, bevor der Coronavirus und die Rezession drohte, ihre Cashflows zu mindern (vgl. SpectraNews vom April 2018). Zu Bedenken ist auch, dass die Schulden sehr ungleich verteilt sind. Während amerikanische Techgiganten wie Apple und Google auf Hunderten Milliarden Cash sitzen, sind andere Branchen durchs Band sehr hoch verschuldet.

Hohe Schulden machen Unternehmen – und natürlich auch die Haushalte oder Staaten – verwundbar für unerwartete Schocks. Das ist das Hauptproblem einer Tiefzinspolitik, welche die Wirtschaftsakteure immer zum Schuldenmachen verführen will. Und so reichten nun die Angst vor dem Coronavirus und temporäre Buchungseinbrüche, um die Reise- und Hotelbranche an den Rand des Abgrunds zu bringen.

Ein anderes aktuelles Beispiel ist der Ölsektor. Gerade weil praktisch alle Produzenten auf hohen Nettoschulden sitzen, reagierten die Aktien umso empfindlicher auf den am Sonntag angekündigten Kampf um Marktanteile zwischen den Grossproduzenten Russland und Saudi-Arabien. In vergangenen Phasen der Ölschwemme hatten die meisten Ölfirmen gute Bilanzen mit viel Nettoliquidität und konnten längere Preiseinbrüche überstehen. Jetzt geht es für den halben amerikanischen Ölsektor ums nackte Überleben – und zwar sofort und unmittelbar, nicht erst längerfristig auf Grund des Trends zu Klimaschutz und weniger Austoss von Kohlendioxid.

Die anhaltend tiefen Zinsen haben zudem dazu geführt, dass darbende Pensionskassen und Sparer sich auf der Jagd nach noch ein bisschen Zins nach immer riskanteren Anlagevehikeln streckten. Abermilliarden flossen in hochriskante Schrottanleihen oder Kredite an überschuldete Private-Equity-Firmen. Viele vom Profil her konservative Anleger wagten sich zudem gerade in den letzten zwölf Monaten zur Unzeit an den Aktienmarkt, getrieben vom allmächtigen Motto: «Es gibt keine Alternative».

Die Märkte waren damit höchst verwundbar und der Coronavirus nur der Dominostein, der die Kaskade ins Rollen brachte. Im Nachhinein ist der Virus eine bequeme Ausrede für die Zentralbanken und viele unvorsichtige Investoren, um sich aus der Verantwortung zu stehlen.

SocGen-Stratege Albert Edwards sieht damit Parallelen zur letzten Finanzkrise: «Im Jahr 2008 führten viele Kommentatoren den Kollaps der Weltwirtschaft auf den Bankrott von Lehman Brothers zurück. Dies war nur eine Ausrede für ihre übermässigen Optimismus und der Versuch, einem exogenen, «unvorhersehbaren» Schock die Schuld an allem zu geben. Genau wie jetzt, war jedoch das Ausmass der Blase das Problem und nicht der unmittelbare Auslöser ihres Platzens.»

Stimmt die These, dass zu tiefe Zinsen die Ursache der aktuellen Probleme sind und nicht deren Lösung, so besteht aus Anlegersicht Grund zu erhöhter Vorsicht. Mit ein paar Zinssenkungen des Fed und ein bisschen mehr Anleihenkäufen der EZB kommen weder die Reisebuchungen zurück noch steigt der Ölpreis. Auch die erhöhte Volatilität an den Märkten wird nicht so bald wieder verschwinden.

Bilanzen bekommen wieder Gewicht

Eine alte Anlegerweisheit besagt: «Bilanzen zählen nur in der Krise». In den Boomjahren interessieren sich die Investoren einzig für Gewinnwachstum und schöne Stories von revolutionären Technologien und neuen Märkten. Bilanzen gelten als weitgehend irrelevant. Gehen die Cashflows zurück und steigen die Kreditaufschläge für schlechte Schuldner, zählen die Bilanzen und Kreditfälligkeiten wieder. Plötzlich werden Aktien dann auf Grund ihres möglichen Liquidationswerts gehandelt und die erhofften Cashflows in fünf oder zehn Jahren interessieren niemanden mehr.

Diese Verschiebung des Zeithorizonts der Märkte und der Aufprall in der Realität des hier und jetzt hat erst begonnen. Es ist eine Chance für Anleger, sich von den Aktien und Anleihen von Firmen mit schlechten Bilanzen zu trennen, so lange das Fenster dazu noch offen ist. Da niemand weiss, wie lange Coronavirus und Rezession noch für Gewinneinbrüche bei den Unternehmen sorgen werden, ist die Bilanz ein zentraler Faktor, um möglichst heil durch die Krise zu kommen. Eine starke Bilanz ist so etwas wie ein gutes Immunsystem gegen unvorhersehbare und ständig mutierende Bedrohungen.

Bei unserer Titelauswahl achten wir deshalb weiterhin stark auf Verschuldung eines Unternehmens. Während man sich damit vor vielen Gefahren des Marktes schützen kann, machen uns die möglichen Zweitrundeneffekte der Krise mehr Sorgen.  Wenn die alte Medizin nicht mehr anschlägt, werden die Notenbanken wohl bald dazu übergehen, neue experimentelle Methoden zur Reinflationierung wie Helikoptergeld oder Modern Monetary Theory (MMT) zu testen (vgl. SpectraNews vom Mai 2019). Die Risiken und Nebenwirkungen dieser Gegenmassnahmen dürften uns dann noch längere Zeit beschäftigen.

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