Beide Anlagestrategien haben relativ zum Markt ihre rosige und weniger gute Zeit, wann sollte aber welcher Ansatz implementiert werden?
Dafür können wir zwei Rechenbeispiele anhand von Visa und Petrobras machen. Visa wäre ganz klar Buffetts Favorit als Oligopol mit riesigen Gewinnmargen in einem strukturell wachsendem Markt. Petrobras als Rohstoffproduzent in Brasilien ohne Preissetzungsmacht und mit politisch bedingtem Bewertungsdiscount wäre eher etwas für Graham.
Mal angenommen, wir befänden uns in einem Marktumfeld mit sorgenfreien Investoren, in dem Visa beim fairen Wert und Petrobras mit einer leichten Unterbewertung von 20% handelt. Weiter glauben wir, dass Visa seinen Gewinn über die nächsten Jahre um 12% pro Jahr steigern und Petrobras’ Free Cashflow bloss mit der Inflation von 3% mithalten kann. Zudem gehen wir davon aus, dass beide Aktien in 10 Jahren am fairen Wert handeln. Was ist nun die erwartete Rendite beider Aktien?
Visa hat als wundervolles Geschäft eine höhere Bewertung verdient, deshalb ist ihre FCF-Rendite am fairen Wert nur 3%. Einen Gewinn durch eine höhere Bewertung in zehn Jahren können wir nicht erwarten, weil Visa bereits heute am fairen Wert handelt. Glücklicherweise wächst Visa unserer Meinung nach mit 12%.
Petrobras wächst mit 3% viel weniger stark, dafür beträgt die heutige FCF-Rendite 8% und wenn sich über zehn Jahre die Unterbewertung aufhebt, verdienen wir eine jährliche Zusatzrendite von 2.3%
Die erwartete Rendite beider Aktien ist folglich:
Visa
FCF-Rendite 3%
+ ∆ Bewertung 0%
+ Gewinnwachstum 12%
= Gesamtrendite 15%
Petrobras
FCF-Rendite 8%
+ ∆ Bewertung 2.3%
+ Gewinnwachstum 3%
= Gesamtrendite 13.3%
In diesem Beispiel ist Visa das bessere Investment, weil die Unterbewertung bei Petrobras nicht gross genug ist. In einer Phase der Sorglosigkeit ist das Qualitätsunternehmen vorzuziehen, weil man ungefähr die gleiche Rendite erhält wie bei allen anderen Aktien, aber viel mehr Qualität.
In einer Phase der Angst fliehen aber alle Investoren in die sichergeglaubte Qualität und die Bewertungsunterschiede zwischen den beiden Arten von Aktien können sehr gross werden. In einem solchen Fall kann es sein, dass Visa selbst auch mit 20% Discount leicht unterbewertet wird, Petrobras aber mit einem 50prozentigen Abschlag gehandelt wird. Wie sieht dann die Rechnung aus?
Visa
FCF-Rendite 3.7%
+ ∆ Bewertung 2.3%
+ Gewinnwachstum 12%
= Gesamtrendite 18%
Petrobras
FCF-Rendite 12.8%
+ ∆ Bewertung 7.2%
+ Gewinnwachstum 3%
= Gesamtrendite 23%
Jetzt ist der Bewertungsunterschied der beiden Aktien gross genug, dass man für das Zusatzrisiko in Petrobras entschädigt wird. Wenn alle Angst haben, wird der mutige Anleger belohnt.
Uns ist es bewusst, dass die Beispiele theoretisch sind und nicht zwangsläufig der Realität entsprechen. Zweifelhaft ist zum Beispiel die Annahme, dass sich eine krasse Unterbewertung von 50% stetig über zehn Jahre auflöst. Der Markt ist effizient genug, dass er eine starke Unterbewertung in der Regel schneller korrigiert. Der Graham-Ansatz ist darum in der Krise wahrscheinlich noch potenter als in der Theorie.
Sobald die Unterbewertung von Firmen wie Petrobras wieder aufgehoben ist, müssen diese aber wieder verkauft werden, weil die Rendite stark von der Bewertung abhängt. Deshalb hat eine Strategie à la Graham einen höheren Portfolio-Umschlag als eine Strategie nach Buffett, bei dem das zukünftige Gewinnwachstum einen grösseren Ein-fluss auf die Gesamtrendite hat.