„Die erste Generation schafft Vermögen, die zweite verwaltet Vermögen, die dritte studiert Kunstgeschichte und die vierte verkommt vollends.“ Das Zitat von Otto von Bismarck beschreibt ein Problem, das in der Praxis der Vermögensverwaltung wohl bekannt ist. In Medien und Politik herrscht aber nach wie vor die Vorstellung, dass die Reichen dank Zinseszins auf ihrem Kapital immer reicher werden.
Bekanntester Vertreter dieser These ist momentan der französische Ökonom Thomas Piketty, dessen Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ zu einem internationalen Bestseller avancierte. Pikettys theoretische Argumentation bedient sich ausgiebig aus der marxistischen Mottenkiste und wurde bereits von zahlreicher Seite schlüssig demontiert. Doch die Botschaft des Buchs ist willkommen und liefert einen „wissenschaftlichen“ Unterbau für zahlreiche politische Agenden.
An dieser Stelle geht es jedoch um die Empirie, also um Fakten, die aus der praktischen Erfahrung gewonnen werden. Werden dieselben Reichen tatsächlich immer reicher? Werden grosse Vermögen über Generationen immer grösser? Ist dynastischer, also ererbter Reichtum die Hauptursache der beobachtbaren Vermögenskonzentration?
In der Theorie wäre der Aufbau eines dynastischen Vermögens ja ganz einfach. Dies zeigt etwa die Parabel vom Josefspfennig: 1 Cent im Jahr Christi Geburt zu 5% angelegt, ergäbe heute mit Zineseszins ein Vermögen von 24 Sextilliarden. Etwas weniger absurd: 1 Franken im Jahr 1516 investiert, als es schon so etwas wie Banken, Anleihen und Aktien gab, wären zu 5% über 500 Jahre zu 39 Milliarden Franken angewachsen. Doch wo sind sie heute, die Nachfahren dieser fleissigen Sparer? Offensichtlich ist es in der Praxis nicht so einfach, ein Vermögen über Jahrhunderte von Erbteilungen, Zahlungsausfällen, Inflation und Steuern zu retten.
Wo sind heute die Erben der Fugger, Medicis und Rothschilds? Oder die Nachfahren einst so ultrareicher amerikanischer Familien wie der Astors, Carnegies, Rockefellers und Vanderbilts? Als 120 Erben des legendären Eisenbahn-Moguls Cornelius Vanderbilt im Jahr 1973 zusammenkamen, befand sich nicht ein einziger Millionär darunter. Es gibt zwar noch ein paar Rockefellers und Rothschilds mit stattlichen Vermögen – aber diese sind im Vergleich zum sagenhaften Reichtum ihrer Vorfahren inzwischen lächerlich klein geworden.
Eine neue Studie von Robert Arnott, William Bernstein und Lillian Wu hat die Entwicklung der grössten Vermögen systematisch untersucht anhand der seit 1982 publizierten Reichsten-Listen der Forbes 400 sowie einer bis 1918 zurückreichenden Studie der reichsten amerikanischen Familien von Kevin Phillips.
70% der Reichsten sind self-made
Bereits ein einfacher Blick auf die Forbes 400 von 1982 im Vergleich zu 2014 zeigt, dass die Thesen von Piketty und anderen zur Vermehrung des dynastischen Reichtums nicht stimmen können: Nur noch 69 Mitglieder der ersten Liste beziehungsweise deren Nachfahren befanden sich 2014 unter den reichsten 400 Amerikanern. Unter den 30 Reichsten sind über 70% self-made, also Unternehmer der ersten Generation. Zudem befindet sich kein einziger Vertreter der 30 reichsten Amerikaner von 1918 oder 1930 heute noch unter den Top 30. Und dies wohlgemerkt in Amerika, wo weder Kriege, noch hohe Steuern oder Hyperinflation die Vermehrung von dynastischem Reichtum besonders erschwert hätten.
In einem Punkt mag das Volksempfinden recht haben: Die Reichen als Klasse werden immer reicher: 1982 genügten bereits 75 Millionen Dollar, um es unter die Top 400 Amerikas zu schaffen. 2014 musste man dazu über ein Vermögen von mindestens 1.5 Milliarden Dollar verfügen. Selbst inflationsbereinigt entspricht dies einem Anstieg um das Achtfache. Die 400 Reichsten wurden auch im Vergleich zum durchschnittlichen Bruttoinlandprodukt pro Kopf um gut das Achtfache reicher – aber es sind eben gerade nicht dieselben Leute und ihre Nachkommen. Dynastischer Reichtum ist ein moderner Mythos.
Der relative Reichtum halbiert sich alle 23 Jahre
Im Gegenteil ist es mehrheitlich so, dass die reichen Dynastien über die Generationen immer ärmer werden. Gemäss den Auswertungen von Arnott et al. halbiert sich der relative Reichtum der Forbes 400 rund alle 23 Jahre. Das bedeutet nicht unbedingt, dass ihr Vermögen nominal schwindet. In Relation zu den Neureichen auf der Liste sowie dem steigenden US-Bruttoinlandprodukt BIP werden sie jedoch immer „ärmer“. Auch im Vergleich zu einem passiven Portfolio aus 60% Aktien und 40% Obligationen schrumpft ihr Vermögen um rund 5% im Jahr. Eine Analyse der reichsten Familien seit 1918 gemäss Phillips‘ Liste ergab ebenfalls eine Schwundrate von rund 5.3% im Jahr in Relation zum durchschnittlichen Pro-Kopf-BIP der Amerikaner.
Diese relative Vermögenserosion von 5% ist eine direkte Folge der zahlreichen Schwierigkeiten beim Erhalt grosser Vermögen: Steuern, Verwaltungsgebühren, exzessiver Konsum, schlechte Anlageentscheide, Erbteilungen und Rechtsstreitigkeiten sind wohl die häufigsten Ursachen dafür.
Wobei die Reichtumserosion mit jeder Generation zunimmt: Die Gründer verloren in 32 Jahren im Schnitt nur etwas über einem Viertel an relativem Reichtum. Die Erben der zweiten Generation büssten dagegen in 24 Jahren schon die Hälfte ihres Vermögens im Vergleich zum Schnitt der Forbes 400 ein. Bei der dritten Generation betrug die Halbwertszeit nur noch 11 Jahre. Bismarck berühmtes Dictum lässt sich damit empirisch belegen (siehe Grafik unten). Nur die Analyse der „verkommenen“ vierten Generation steht mangels Daten noch aus.